Kryptum
gewesen sein mußte und wohl von den Sandstürmen |631| aufgefüllt worden war, von den Überschwemmungen des Flusses wie auch von dem schwarzbraunen Schlamm selbst, der aus jener riesigen Naht sickerte. Mitten darin war eine kleine Erhebung zu erkennen, kaum mehr als ein sanfter Hügel, umgeben von einem tiefen Graben. Dennoch ließen die Gleichmäßigkeit seiner Grundfläche – ein perfektes Quadrat –, das abgetragene Erdreich und die verstreuten Lehmziegel rundherum Menschenhand erahnen. Ich sah, daß die Fundamente noch erhalten waren, und obwohl nur noch ein paar Kanten hervorstachen, konnte man darin ein Muster erkennen, das meinem Labyrinth glich.
›Was ist das?‹ fragte ichYunan.
›ETEMENANKI.‹
›Die Ruinen des Turmbaus zu Babel?‹
›So nennen es einige. Aber der wirkliche Name ist ETEMENANKI, der Grundstein von Himmel und Erde. Oder auch
der letzte Schlüssel
.‹
›Ist das das Vorbild für das Labyrinth?‹
›Das ist seine Urform, die Abraham von Ur und Babylonien nach Jerusalem und Mekka mitnahm. Das Labyrinth auf Eurem Pergament, das in der Kaaba und das, welches Ihr im Felsendom gesehen habt, sind Abbilder dieses Himmelsfundaments auf Erden.‹
›Und jedes andere?‹
›Auch jedes andere, das man finden mag‹, bestätigte er.
›Der Turm muß riesig gewesen sein.‹
›Es heißt, seine Spitze, ein würfelförmiger Saal, habe sich in den Wolken verloren und in ihm habe nichts als ein leerer Thron gestanden …‹, fügte Yunan hinzu. ›Am Anfang konnten die Menschen in ihrem Innersten noch die Stimme Allahs vernehmen, und sie verstanden sie, denn es war die Sprache allen Ursprungs. Als sie ihnen mit der babylonischen Sprachverwirrung verlorenging, vermochten sie sie danach noch in ihren Träumen zu hören. Deshalb errichteten sie diesen Thron dort oben, damit der Allmächtige auch weiterhin jede Nacht zu ihnen sprechen konnte. Und deshalb zeichneten sie seine |632| göttlichen Eingebungen auf, und als dieser Turm zerstört wurde, brachten sie sie weit weg, ins Haus des Traumes, wo man sie fortan sorgsam hütete.‹
Ich beugte mich über den Graben. Er war zu tief und zu breit, um ihn überqueren zu können. Hätte ich es versucht, wäre ich unweigerlich von einer zähflüssigen schwarzen Masse verschlungen worden. Scharf und durchdringend riechender Teer, der den ganzen Turm umgab.
›Es wird langsam spät, wir haben noch einen weiten Weg vor uns …‹, murmelte mein Begleiter.
Wir kehrten zu unserer Barke zurück und ruderten stromaufwärts bis zum Haus der Familie, bei der wir unsere Pferde untergestellt hatten. Dort verbrachten wir die Nacht. Ich fand jedoch keinen Schlaf. Ein Gedanke jagte den anderen. Ich trat aus dem Haus und setzte mich an den Fluß. Die Sterne spiegelten sich flimmernd im dunklen Wasser, als wiegten sie sich im Takt des Quakens der Frösche. Ab und an wurde es von einem jämmerlichen Laut unterbrochen, wenn eine Schlange einen von ihnen zu fassen bekommen hatte. Sodann setzte der dumpfe Herzschlag der Sümpfe erneut ein, als schlügen die Wellen über einem Ertrinkenden zusammen. Als ich mich umdrehte, sah ich, daßYunan schweigend hinter mir stand.
›Morgen brechen wir zum Haus des Traumes auf‹, verkündete er. ›Geht schlafen und ruht Euch aus. Ihr werdet es brauchen.‹
Und so geschah es. Wir ritten mehrere Tage flußaufwärts, bis der Kalligraph erklärte, am Tag darauf würden wir dem Euphrat den Rücken kehren und gen Westen reiten. Wir übernachteten in einer der vielen Höhlen, die in die Felswände gehauen waren und wohl einst Eremiten beherbergt hatten.
Kaum war die Sonne aufgegangen, weckteYunan mich, und wir setzten unseren Weg durch ein trockenes Flußbett fort, das immer schmaler wurde. Anfangs dachte ich noch, diese Schlucht hätte keinen Ausgang, und wir müßten wieder umkehren, aber ich täuschte mich. An ihrem Ende, verborgen zwischen hohen, mit dornigen Pflanzen bewachsenen Felsen, |633| stießen wir auf eine enge Felsspalte, durch die wir mit Müh und Not, die Pferde am Zügel führend, hindurchpaßten. Auf der anderen Seite war die Luft ganz feucht. Vor uns lag ein kleiner Wasserfall, dessen Rauschen wir schon in der Spalte vernommen hatten, und dahinter eine Wiese. Als ich nach oben blickte, kam es mir so vor, als könne ich an den Steinwänden um mich herum rote, schwarze und weiße Zeichnungen auf ockerfarbenem Grund erkennen.
Die Pferde ließen wir grasen, während wir die Felswand über so regelmäßige Stufen
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