Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
Vom Netzwerk:
Ausdruck dieser Brauen offenbarten sich die Größe und Liebe Allahs. Und ihnen mit diesem Buchstaben zu huldigen bedeutet, dem Allmächtigen zu huldigen.‹
    ›Um so zu schreiben, muß man sich also die Welt zum Vorbild nehmen?‹
    ›Nein. Denn das wäre Götzendienst. Wozu das abbilden, was es bereits gibt? Warum in Wettstreit treten mit dem Spiegel oder dem Schöpfer? Die Christen fügen ihren Schriften stets Bilder hinzu, ja sie wagen es sogar, Allah selbst bildhaft darzustellen. Die Herausforderung für uns liegt darin, das Wort unseres Schöpfers, dem alles entstammt, durch eine Linie auszudrücken, mit ihrem Rhythmus und ihrer Modulation. Das Schreiben ist eine Gabe, die Allah einzig und allein dem Menschen verliehen hat. Wir streben nicht danach, die äußere Erscheinung der Dinge abzubilden, sondern ihre Seele, so wie die Zahlen die göttlichen Gesetze repräsentieren. Und nur so werden Eure
alifs
auf dem Papier in die Höhe streben wie die Schäfte des Schilfrohrs im Röhricht. Und Eure Kalligraphie wird ein weiterer Ausdruck des Odems unseres Schöpfers sein, seines göttlichen Wortes.‹
    Überwältigt von der Macht seiner Worte senkte ich den Kopf.
    |627| Da legte Gabbeh mir begütigend die Hand auf die Schulter und sagte:
    ›Jetzt seid Ihr vielleicht imstande, zu begreifen, was auf Eurem Pergament geschrieben steht. Zeigt es mir.‹
    Ich lief, es zu holen, und ordnete dann die Keile auf dem Brett, auf dem ich meine Schreibübungen gemacht hatte.
    ›Seht Ihr dies hier?‹ fragte er mich. ›Diese Kalligraphie ist ein Meisterwerk, denn der Kalligraph hat sein Maß der
nuqta
gewissenhaft eingehalten. Und dennoch ohne jeden Zwang. Als sei er dabei einer inneren Stimme gefolgt, die aus seinem Herzen sprach. Dieses Labyrinth stammt aus der Zeit des Kalifen al-Walid I., unmittelbar nach der Eroberung von al-Andalus, und es ist nur an drei Orten zu finden: im Wüstenpalast von Qasarra im Süden der syrischen Wüste, im Felsendom in Jerusalem und auf dem Sockel der Kaaba in Mekka.‹
    Gabbehs Kenntnisse überraschten mich.
    ›Könnt Ihr es denn lesen?‹ fragte ich ihn.
    ›Ich habe es schon gelesen. Es ist die Thron-Sure, die Verse aus dem Koran, die als Talisman verwendet werden.‹
    Da fiel mir wieder ein, daß ich diese Sure tatsächlich im Inneren der Kaaba entdeckt hatte, allerdings in Kursivschrift. Aber in jenem Moment konnte ich sie mit dem Pergament nicht in Verbindung bringen, da ich diese eckige Monumentalform der arabischen Schrift noch nicht kannte. Jetzt sah ich zu, wie Gabbeh die Linien mit dem Finger nachzeichnete. Er begann am äußeren Rand, an einer der Ecken, und führte ihn in Spiralen bis zur Mitte des Labyrinths, und in dem Maße, wie er dabei die Buchstaben einen nach dem anderen laut vorlas, konnte ich sie auch erkennen. Mir selbst gelang dies jedoch erst nach mehreren Versuchen, während deren mich seine meisterhafte Hand führte.
    ›Ist das eine Art Plan?‹ wollte ich neugierig wissen.
    ›Nun, es kann einem als Plan dienen‹, antwortete er mir. ›Denn es gibt an, wie man das Labyrinth zu durchlaufen hat, daß heißt, die Verse der in dieser Schrift verschlüsselten Sure weisen einem den Weg, so wie ich es Euch gerade gezeigt habe. |628| Aber eigentlich ist es eine Reise zum Samenkorn, zum Ursprung der Welt.‹
    ›Und dieser Schlüssel ist die Daseinsweise, die die Kalligraphen ETEMENANKI nennen?‹ bohrte ich nach.
    ›Nicht nur die Kalligraphen, sondern auch die Baumeister, die in drei Dimensionen arbeiten. Beide betrachten sie als
letzten
Schlüssel
zum Göttlichen, als die Urschrift, nach der Allah die Welt erschuf. Diejenigen, die in die Geheimnisse von ETEMENANKI eingeweiht sind, sind in der Lage, sie in der Architektur, den Webarbeiten und der Kalligraphie zu verbergen. Wer ein so ersonnenes Gebäude betritt, einen Wandteppich, das Muster eines Mosaiks oder eine Inschrift bewundert, die diese Geheimnisse in sich tragen, wird davon durchdrungen, selbst wenn er sie nicht zu entschlüsseln weiß, und zwar unabhängig von seiner Rasse oder seinen Überzeugungen. Es heißt, in Isfahan gebe es eine Moschee, in der jeder, der sie betritt, eine solch tiefe Ergriffenheit verspürt, daß er, aus welchem Land er auch komme, zu weinen beginnt; denn ihre Proportionen bergen die Geheimnisse der menschlichen Seele wie auch die Art und Weise, sie in Einklang mit der übrigen Schöpfung zu bringen. Diese Muster können aber auch einem Klang oder einer Melodie innewohnen.‹
    ›Das

Weitere Kostenlose Bücher