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Kryptum

Kryptum

Titel: Kryptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agustín Sánchez Vidal
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zu den spröden Lehren des Schilfrohrs, die mir der Kalligraph Gabbeh mühsam beizubringen versucht hatte. Ich war ihm dankbar dafür, daß er gleich zur Sache kam. Er kannte sämtliche Träume in ihren Grundzügen und verstand es, zwischen den wirklichen Abweichungen und den sinnlosen Verzweigungen zu unterscheiden und die Träume wieder zu ihrer Hauptlinie zurückzuführen. Sicher war es diese Vertrautheit mit dem geheimen Leben der Menschen und ihren verborgensten Phantasien, die ihn zu einer so nachsichtigen, freundlichen Haltung geführt hatte.
    Er lehrte mich, daß man einen Traum ruhig unterbrechen konnte, wenn man nur seine Bilder bewahrte und diese dort wieder aufnahm, wo man den Traum verlassen hatte. Wenn |636| ich träumte, durch einen Wald zu gehen und an eine Weggabelung zu kommen, fragte er mich beim Aufwachen:
    ›Was haben Euch die beiden Wege geboten?‹
    ›Auf einem habe ich am Wegesrand bloß Bäume gesehen, während an dem anderen Weg Ruinen lagen‹, antwortete ich.
    ›In diesem Fall schlagt den Weg mit den Ruinen ein, wenn Ihr in Euren Traum zurückkehrt. Wenn Ihr dieses Bild bewahrt, werdet Ihr den Ort vielleicht wiederfinden, während die Bäume allein Euch nur wenig sagen.‹
    Er lehrte mich auch, wie ich es vermeiden konnte, mich immerzu in Tunneln zu verirren, die nirgendwohin führten. Und wichtiger noch: wie man diese sinnlosen Traumstollen von den bedeutsamen unterscheiden konnte, die man beharrlich weitergehen mußte. So fiel ich schon viele Tage lang immer wieder in einen Brunnenschacht, der immer unergründlicher und dunkler wurde und in dem ich nichts sehen konnte, weshalb ich diesen Ort so schnell wie möglich verlassen wollte.
    ›Nein, halt, gebt noch nicht auf‹, bat er.
    Ich folgte seinem Rat. Bis ich eines Tages, und noch in weiter Ferne, am Grund des Brunnens ein Labyrinth zu erahnen begann. Und nach vielen weiteren Träumen fiel mir auf, daß es dem auf meinem Pergament ähnelte.
    ›Ihr nähert Euch Eurem Ziel‹, ließ er mich wissen.›Aber es ist gefährlich, wenn Ihr zu früh eindringt. Versucht, wieder etwas hinaufzuklettern. Damit Ihr Euch allmählich daran gewöhnt.‹
    Beim Hinaufsteigen begegnete ich einem Fremden, der sich auf demWeg nach unten befand. Seine Kleidung und sein Aussehen waren höchst sonderbar.
    Als ich das dem Greis erzählte, fragte er mich:
    ›Wer ist das?‹
    ›Ich weiß es nicht.‹
    ›Dann fragt ihn‹, lautete sein Rat. ›Findet heraus, wie er heißt und woher er kommt.‹
    Ich brauchte mehrere Nächte, bis ich mich auf die Höhe jenes Unbekannten begeben und mit ihm sprechen konnte. Als |637| es mir schließlich gelang, überraschte es mich nicht wenig, daß er meine Sprache verstand. Ich erzählte es dem Hüter der Träume.
    ›Er heißt David und sagt, er komme aus Antigua‹, berichtete ich erstaunt. ›Genau dort, in dieser spanischen Stadt, bin ich geboren‹, fügte ich erklärend hinzu.
    ›Dann kehrt am besten gleich in Euren Traum zurück und fragt ihn, was sich über Euch, am Eingang des Brunnenschachts, befindet. So werdet Ihr wissen, wie Ihr diesen Ort finden könnt, wenn Ihr nach Antigua zurückkehrt.‹
    ›Ist das wirklich möglich? Genau an die Stelle des Traumes zurückzukehren, wo ich ihn verlassen habe? Wird der Mann noch da sein?‹
    ›Versucht es, und seht selbst.‹
    Ich kehrte also wieder in meinen Traum zurück und suchte jenen Mann namens David, dem ich dann meine Frage stellte.
    ›Über diesem Schacht liegt die Plaza Mayor von Antigua. Dies ist der Brunnen, der mitten auf dem Platz steht‹, antwortete er.
    Vor Schreck wachte ich auf und erzählte dem Greis, was David mir gesagt hatte.
    ›Nun‹, sagte er, ›so habt Ihr jetzt also eine erste Spur: den Eingang zum Labyrinth.‹
    ›In Antigua gibt es aber gar keine Plaza Mayor‹, wandte ich ein.
    Da runzelte der Greis die Stirn und schwieg lange Zeit nachdenklich. Schließlich sagte er, ohne seine Besorgnis verbergen zu können:
    ›Das gefällt mir ganz und gar nicht. Ihr bewegt Euch inzwischen in einer höchst gefährlichen Dimension. Ihr müßt fortan äußerst vorsichtig sein, wenn Ihr Euch dem Labyrinth am Grund des Schachts nähert. Ihr könntet Euch in einen fremden Traum verirren und nicht wieder herausfinden, vielmehr in einem anderen Traum landen und von dort aus wieder in einem anderen und noch einem … Und wenn es kein Traum ist, der schon einmal geträumt worden ist, werde auch ich |638| Euch nicht helfen können, da dies nicht in meiner

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