Kryptum
hochkletterten, daß man sie fast für eine in den Stein gehauene Treppe halten konnte. Oben angekommen, sah ich mich um. Die Einsamkeit jener Felslandschaft, die im veilchenblauen Licht vor uns lag, rührte mich zutiefst. Hier oben wuchs nicht einmal ein Grashalm. Es war, als wäre die Zeit stehengeblieben und die Abfolge der Jahreszeiten aufgehoben.
Wir folgten einem steinigen Pfad, bis hinter einer Kehre ein freistehender, rätselhafter Felsen auftauchte, von dem ein gleißendes Licht ausging, das sich in die Höhe fortsetzte. Auf den ersten Blick sah alles wie ein Werk der Natur aus. Doch der Pfad, der uns zu diesem eindrucksvollen Felsblock leitete, verriet die Menschenhand. Dort tat sich vor uns ein Stollen auf, der in den Berg führte und an dem entlang sich zu beiden Seiten in Stein gehauene Höhlen aneinanderreihten, deren Bewohner uns kaum eines Blickes würdigten, was mich sehr verwunderte. Wir liefen weiter bis zu einer Pforte, vor derYunan andächtig innehielt.
›Das ist der Eingang zum Haus des Traumes‹, erklärte er.
Kaum hatten wir ihn durchschritten, blieb ich stehen. Staunend sah ich mich um. Wir befanden uns in einer Art riesigen Urnenhalle mit Hunderten von Nischen, die voller Gegenstände waren, wobei ich nicht erkennen konnte, was es war.
Ein hutzeliger Greis mit langem weißen Bart empfing uns, und Yunan erklärte ihm den Grund meines Besuchs. Der Greis nickte bedächtig, und als ich ihn fragte, was all die Nischen enthielten, antwortete er:
|634| ›Träume, das sind Träume. Und ich bin ihr Hüter.‹
Er lächelte, als er die Überraschung auf meinem Gesicht sah, und fügte hinzu:
›Hier findet Ihr all das aufgezeichnet, was aus jener im menschlichen Gedächtnis versunkenen Region stammt, woher die Träume stammen. Es sind die Überreste, Fragmente uralter Sprachen, festgehalten auf Tontäfelchen, Holz, Papyrus, Pergament, Papier … Einige davon sind vor Tausenden von Jahren geträumt worden.‹
›Braucht man nicht unendlich viele Tontafeln, um all die Träume festzuhalten?‹
›Glaubt das nicht. Sie wiederholen sich. Es werden nur einige wenige Träume geträumt. Ihr müßtet mir nur die Euren nennen, und ich könnte Euch zu ihnen führen.‹
›Ist das Eure Aufgabe?‹ fragte ich ihn.
›Ich kann Euch helfen, die Euren zu ergründen‹, erwiderte er. ›Denn Ihr müßt die Träume verwerfen, die zu nichts führen, damit Ihr endlich dahin gelangt, wo Ihr hinwollt.‹
›Und wie geht das?‹
›Habt Ihr nie geträumt, Ihr befändet Euch mitten in Euren Träumen und sähet Euch selbst dabei zu, wie Ihr bestimmt, was geschieht?‹ fragte er.
›Nun ja, manchmal schon. Aber dieser Zustand ist sehr flüchtig.‹
›Weil Ihr nicht wißt, wie Ihr ihn verlängern und beeinflussen könnt. Wenn Ihr das beherrscht, könnt Ihr die Wege wählen, die im Traum vor Euch erscheinen, dem einen oder dem anderen folgen, wieder an denselben Ort zurückkehren, den Ihr geträumt habt, oder auch aufwachen, ganz wie Ihr wünscht. Gibt es irgendeinen besonderen Traum, den Ihr ergründen wollt?‹
›Ja. Früher sah ich im Traum immer meine Frau, und es war, als läge ich wirklich neben ihr. Doch seit längerem finde ich sie nicht mehr, nicht einmal in den verborgensten Winkeln meiner Alpträume.‹
Der alte Mann nickte nachsichtig und fragte:
|635| ›Noch einen anderen?‹
Da holte ich die zwölf Keile hervor und fügte sie zusammen.
›Das ist die Landkarte eines uralten Traumes‹, erklärte er, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. ›Eines Traumes so alt wie die Welt. Es heißt, daß es der Traum desjenigen ist, der sie erschaffen hat, weshalb er allem zugrunde liegt. Er befindet sich also auch irgendwo in Euch. Möglich, daß er sehr tief in Eurem Innersten verborgen ist. Dann wird es schwer sein, ihn zu finden. Wißt Ihr um die Gefahren, die die Suche danach mit sich bringt?‹
›Ja, ich kenne sie.‹
›Und dennoch wollt Ihr danach suchen?‹
›Ja, ich will.‹
›Dann beginnen wir damit noch heute nacht.‹
Und er gab Yunan einen Wink, daß wir uns in eine der Höhlen zurückziehen sollten, um uns dort von der Reise etwas zu erholen.
Bei Sonnenuntergang kamen wir zurück. Er bereitete mir ein Lager, setzte sich neben mich und gab mir eine Schale mit einem süßen, stark gewürzten Sud zu trinken.
Trotz seines hutzeligen, strengen Äußeren war der Alte ein sehr gütiger Mann, dem der Schalk aus den Augen blitzte. Sein wunderbarer Sinn für Humor stand im Gegensatz
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