Kryptum
Macht steht.‹
Es dauerte nicht lange, da durchlief ich in meinen Träumen auch schon jene beklemmenden Irrwege. Und jedes Mal fiel es mir schwerer, das Bewußtsein wiederzuerlangen. Ich merkte, daß der Hüter der Träume sehr beunruhigt war. Aber das Labyrinth schien mir schon so nah, daß ich nicht aufgeben wollte. Bis ich es eines Tages mit der Hand berühren konnte. Das erschütterte mich tief und ließ mich vollkommen die Orientierung verlieren. Vor mir begannen sich Türen zu öffnen, eine nach der anderen, die mich allesamt magisch anzogen, bis ich an einen Ort geschleudert wurde, der in der Luft zu schweben schien. Ich wußte nicht, wo ich mich festhalten konnte, und es herrschte tiefe Finsternis. Ich versuchte zu entkommen … nur wie?
Später erzählte mir der Hüter der Träume, er und Yunan hätten mich endlos lange geschüttelt, um mich aus jenem Zustand zu befreien; zeitweilig hielten sie mich gar für tot. Ich selbst erinnere mich nur, daß ich nach einiger Zeit eine Stimme vernahm, die mich bei meinem Namen rief. Immer und immer wieder, bis ich sie erkannte. Er war die Stimme von Rebecca. Und dann sah ich sie vor mir. Das Licht, das von ihr ausging, war nur sehr schwach, dennoch reichte es, um die grauenerregende Finsternis um mich herum etwas zu erhellen. Sie schien mir einen Weg zeigen zu wollen. Ich versuchte ihr zu folgen, was nicht einfach war. Ihr Bild war sehr flüchtig, sie kam und ging, ich verlor sie immer wieder aus den Augen. Trotzdem gelang es ihr, mich zurück in den Schacht zu führen, von wo aus ich den Ausgang finden konnte.
Als ich den rettenden Ausgang endlich vor mir hatte, wollte ich Rebecca jedoch unter keinen Umständen dort zurücklassen, ich wollte, daß sie mit mir kam. Ich hatte so lange darauf gewartet, sie wiederzusehen, und war nicht bereit, sie noch einmal zu verlassen. Ich streckte die Hand nach ihr aus, wartete geduldig, daß sie sie ergriff. Aber sie konnte mir nicht folgen, ihr Bild löste sich auf, verschwamm, sobald sie versuchte, |639| jenen Ort zu verlassen. Und nicht nur das. Um mich herum begannen die Wände einzustürzen, und wenn ich nicht auf der Stelle fliehen würde, würde ich für immer in jener Finsternis gefangen bleiben. Unendliche Traurigkeit überkam mich, als ich sah, wie ihr Traumbild noch einmal leicht aufflackerte, bevor es für immer erlosch, während ihre Stimme ein zärtliches Lebewohl hauchte …«
Raimundo Randa hält in seiner Erzählung inne, als er das leise Weinen seiner Tochter vernimmt.
»Sie hat gesagt, sie habe Euch in ihrem langen Todeskampf gesehen«, erklärt Ruth ihm schluchzend. »Und sie streckte die Hand nach Euch aus und rief unentwegt Euren Namen. Wir schrieben es ihrem Fieber zu.«
»Für mich war es, als hätte ich es wirklich erlebt. Ich fing an zu schreien und wachte davon auf. Ich fühlte mich so zerschlagen, als wäre ich aus dem Totenreich zurückgekehrt.
Nachdem ich mich etwas erholt hatte, fragte ich den Hüter der Träume, was mir widerfahren war, und teilte ihm meinen Entschluß mit, das Haus der Träume so bald wie möglich zu verlassen. Bestürzt schüttelte er den Kopf und sagte:
›Es ist höchst bedauerlich, daß Ihr Eure Suche abbrechen wollt. Gerade jetzt, wo Ihr das Ziel Eurer Träume mit den Fingerspitzen schon berührt habt. Nur selten habe ich jemanden gesehen, der alle Voraussetzungen dafür mitbringt. Nun denn, jetzt wißt Ihr zumindest, daß Ihr Euch großen Gefahren aussetzt, wenn Ihr doch eines Tages in jenes Labyrinth eindringen wollt. Sollte es soweit sein, tut es nicht, bevor Ihr nicht diesen Traum geträumt habt. Vielleicht schafft Ihr es ja, ihn zu Ende zu träumen. Denkt daran, daß Ihr das Labyrinth auf dem Pergament verinnerlichen müßt, bis es eins wird mit dem, das ihr bereits in Euch tragt. Nur so kann diese Kraft, die Euch beinahe getötet hätte, zu Eurer wahren Verbündeten werden, ohne Euch Schaden zuzufügen.‹
Aber ich fühlte mich völlig kraftlos. Die Vision von Rebecca war mir so real vorgekommen, daß ich keinen Moment länger dortbleiben wollte. Ohne noch einen Tag verstreichen zu |640| lassen, wollte ich zu euch zurückkehren, denn ich war mir sicher, daß euch Schreckliches widerfuhr.
Ich war jedoch so geschwächt, daß wir nicht sofort aufbrechen konnten. Wohl aber am nächsten Morgen. Nachdem wir die Stufen hinunter zur Wiese genommen hatten, wo unsere Pferde die ganze Zeit friedlich gegrast hatten, begleitete mich Yunan noch bis zu einer Karawanserei, wo
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