Kryptum
was sich in diesem Kloster zugetragen hat, wobei
ich manche Dinge kundtue und andere verschweige, mich jedoch
immer bemühen werde, sie alle zu verstehen.
Und als Randa den Briefbogen umdreht, entdeckt er zu guter Letzt noch Sigüenzas frommen Epitaph auf den verstorbenen König.
Er hatte alles in seinem Leben stets mit größter Sorgfalt und Inbrunst
vollführt. Stets hatte er seine Hände, Füße und Augen beschäftigt. Mit
seinen Händen schrieb er; mit seinen Füßen lief er;
und seine Augen hatten alles im Blick, wie ein Weber, der in den
zu webenden Stoff verschiedene Fäden einzuarbeiten hat. So
war auch sein Herz. Und sein Tod war, als würde man den fertiggewebten
Stoff vom Webstuhl nehmen.
|733| »Die Fäulnis der Macht … Ruhet in Frieden«, seufzt Randa.
Nachdem der Bote aufgewacht ist, setzt er sich noch einmal zu dem alten Mann auf die Bank. Dabei fällt ihm ein seltsamer, metallisch glänzender Schlüssel ins Auge, der hinter Randa an einem Nagel an der Hauswand hängt. Diesen Brauch hat er auf seinen weiten Reisen schon bei manch anderem spanischen Verbannten gesehen. Gut sichtbar bewahren sie den Schlüssel zum Haus ihrer Vorfahren auf, in wehmütiger Erinnerung an den Sepharad und in der Hoffnung, eines Tages doch zurückzukehren. Aber noch nie hat er einen so merkwürdigen Schlüssel wie diesen gesehen, der eher einem Dietrich gleicht.
»Denkt Ihr daran, einmal zurückzukehren?« fragt der Bote und deutet mit dem Finger darauf.
»Das weiß man nie«, antwortet Randa. »Ich hoffe nur, dann nicht hinter die Tür zurückkehren zu müssen, zu der dieser silberne Schlüssel paßt.«
Als die Musik zu spielen aufgehört hatte, trat David Calderón aus dem Kreis der Männer und ging quer über die Plaza Mayor zu einem der Balkone, die für das Fest der Stadtpatronin feierlich geschmückt waren. Er nahm Haltung an und blickte erwartungsvoll nach oben. Würde Rachel Toledano zu ihm hinunterblicken? Nachdem sie den traditionellen weiten Rock der unverheirateten Frauen geordnet und das Mieder zurechtgerückt hatte, stand die junge Frau auch tatsächlich auf, um sich erkenntlich zu zeigen. Er schwenkte das bunte Fähnchen mit ihren Farben wie eine Trophäe. Daraufhin drehte sich Rachel zu Maliaños Haushälterin Marina um, nahm den Schlüssel entgegen, an dem ein Band in denselben Farben befestigt war, und warf ihn hinunter zu dem Kryptologen, der ihn im Flug auffing.
Als er oben bei Rachel ankam, hatte Marina sich bereits diskret zurückgezogen. Schweigend setzte er sich neben die junge Frau und blickte hinunter auf den Platz. Warum habe ich dieses Ritual eigentlich immer verabscheut? fragte er sich. Ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht, es mir anzusehen. |734| Von dort oben war das Schauspiel wahrlich eindrucksvoll. Die Bewohner von Antigua waren in unglaublich großer Zahl gekommen. Gerade belebte sich die Plaza mit Tausenden von Menschen, die sich zu den Paaren gesellten, die sich beim werbenden Tanz gebildet hatten. Unter dem Mond jener herrlichen Sommernacht gaben sie ein lärmend-fröhliches Bild ab.
»Woran denkst du?« fragte er Rachel, die plötzlich sehr ernst geworden war.
»An das alte Foto von diesem Platz hier. Und daß ich hier sitze, in demselben Kleid, das schon meine Mutter vor so vielen Jahren getragen hat.«
»Das mit Sara muß furchtbar für dich gewesen sein.«
»Na ja … Ich weiß nur, daß sie es schrecklich gefunden hätte, zu Hause im Bett zu sterben. Sie war sterbenskrank und hat eine sehr bewußte Wahl getroffen. In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie, sie sei hierhergekommen
to join the majority
. Wie sagt man das auf spanisch?«
»Dormir con sus mayores
sagen wir, sich mit den Vätern versammeln.«
»Das ist nicht ganz dasselbe. ›Sich der Mehrheit anschließen‹ drückt aus, daß unsere Vorfahren sehr viel zahlreicher sind als wir, die Lebenden. Wir sind nur eine kleine Minderheit, die vorläufige Spitze des Eisbergs … Meine Mutter hat diese Stadt geliebt. Jetzt verstehe ich endlich auch, warum«, murmelte die junge Frau.
»Es ist, als müßte jede Generation sie für sich selbst entdecken, nicht wahr? Genauso wie das, was uns in Antiguas Untergrund passiert ist.«
»Vielleicht hat die nächste ja mehr Glück. Oder ist zumindest vernünftiger.«
David füllte ihre Weingläser.
»Was hast du jetzt vor?«
»Erst einmal muß ich zurück nach NewYork.«
»Willst du wieder bei der Zeitung arbeiten?«
»Ich glaube nicht. Da habe ich schon viel zuviel
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