Kryptum
Ganze zwei, drei Tage lang gären. Bis zum dritten Tag gilt der Saft noch als unvergoren, ab dem vierten ist er dem Gesetz nach bereits Wein, und dann dürfen sie ihn nicht mehr trinken. Vor dem Servieren geben sie noch Schnee dazu, denn ein Sorbet wird kalt getrunken.
Bei einem solchen Trunk, oder bei eingedickter Milch,
yogurt
genannt, saßen wir also zusammen und redeten und redeten. So lehrte Rinckauwer mich die Kunst des Druckens, und wir wurden dicke Freunde. Nur etwas ließ Argwohn in mir aufsteigen, und zwar kam ihn manchmal, mitten im lebhaften Gespräch, jemand holen oder machte ihm ein Zeichen, worauf er unverzüglich aufstand und es eine ganze Weile dauerte, bis er wiederkam. Danach verlor er nie ein Wort darüber, obgleich er mehr als einmal mit zerrissener Kleidung zurückkehrte, was mich mutmaßen ließ, daß er neben der Druckerei noch irgendwelchen fragwürdigen Geschäften nachging. Auch sah ich ihn und Moisés Toledano, Josés jüngeren Bruder, des öfteren die Köpfe zusammenstecken – letzterer ging häufig auf Reisen, vor allem nach Bursa, das ganz in der Nähe von Konstantinopel liegt, wo die Familie die Magazine für ihre Seidenstoffe hatte.
|115| In jener wohlhabenden Kolonie wurde allerorten
ladino
gesprochen, wie das Judenspanische genannt wird, so daß ich mich fast wie zu Hause fühlte. Zudem wähnte ich mich dort in Sicherheit, solange ich nur nicht das Stadtviertel verließ, denn in dem Moment hätte Fartax mich vom Sultan zurückgefordert und dann pfählen lassen, vor allem, weil mich die Toledanos gerettet hatten, mit denen er verfeindet war. Er würde es jedoch nicht wagen, sie in dem von den Sephardim selbstverwalteten Territorium zu behelligen, da ihnen der Sultan, dem Don José jede Woche einen Besuch abstattete, große Ehrerbietung entgegenbrachte.
Die Stellung und der Einfluß der Juden in Konstantinopel waren schwer einzuschätzen. Die Stadt zählte über 10 000 jüdische Haushalte, gegenüber 60 000 türkischen und 40 000 christlichen. Jemand erzählte mir einmal, im gesamten Osmanischen Reich würden etwa anderthalb Millionen Juden leben, eine so unglaublich große Anzahl, daß ich nicht weiß, ob man ihr wirklich Glauben schenken kann. Aber zweifellos verfügten sie über große Macht. Ihre Läden waren über die ganze Stadt verteilt, einschließlich des Großen Bazars, wo man sich wegen des furchtbaren Gedränges, das dort herrscht, eigentlich nur treiben lassen kann und wo viele Taschendiebe unterwegs sind.
Ich genoß mein neues sorgloses Leben sehr. Die Toledanos waren reiche und angesehene Leute, ihr Haus war prächtig, das Essen gut, und die Arbeit übertraf all meine Erwartungen. Ich las und lernte viel in jener Druckerei. Und Don José? Er war ebenfalls beglückt über die gute Arbeit, die ich leistete. Vor allem aber war da noch Rebecca Toledano, die Tochter meines Dienstherrn. Ein bildhübsches Mädchen, kaum zwanzig Jahre alt.«
»Zwanzig Jahre alt war Mutter, als du sie kennenlerntest?« fragt Ruth dazwischen.
»Eigentlich erst neunzehn, glaube ich. Ihr Körper war noch sehr mädchenhaft, hinsichtlich ihres Benehmens und ihres Verstandes war sie aber schon ganz Frau. Ihr Vater vergötterte sie und nannte sie zärtlich ›mein Türkis‹, wegen ihrer verführerischen |116| blauen Augen. Er hatte ihr ein dazu passendes Geschmeide geschenkt, das ein Vermögen wert war und die Bewunderung aller hervorrief, die sie in der Synagoge damit sahen. Mit ihm steckte sie ihr safranblondes Haar hoch, das jeden Raum, den sie betrat, zu erleuchten schien.
Nun, eines schönen Tages, ich war gerade in der Druckerei, vernahm ich auf der Straße großen Lärm. Mit Meltges Rinckauwer lief ich hinaus, um nachzusehen, was los war. Wir erblickten einen großen Zug, der aus vier reich geschmückten Fuhrwerken und nicht weniger als vierzig Pferden bestand. Ihrer Sprache nach zu urteilen waren es Juden, aber sie trugen keine orangefarbenen Mützen, wie es für sie vorgeschrieben war, und auch keine blauen, wie sie die Griechen und all die anderen Christen tragen, sondern welche im venezianischen Stil. Zudem konnte ich jemanden heraushören, der Italienisch sprach.
Wir fragten die Umstehenden, wer diese Leute seien, worauf man uns erklärte, Noah Askenazi, José Toledanos Verwalter, sei zurückgekehrt. Ich fragte mich verwundert, was für eine Art Verwalter das war, der mit mehr Pomp auftrat als derjenige, für den er arbeitete. Auf eine Antwort mußte ich nicht lange warten, denn
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