Kryptum
Retter Laguna gehörte. Aus ihren geheimen Zusammenkünften schloß ich, daß die zehn Geschworenen gekommen waren, um Fragen von großer Wichtigkeit zu besprechen, zumal wir |121| anderen während der Treffen aus dem Haus geschickt wurden, mit dem Befehl, ja nicht vor der Abenddämmerung zurückzukehren.
Am letzten Abend gaben die Toledanos zu Ehren ihrer Gäste ein großes Essen. Es war ein bewegendes Fest voller nostalgischer Erinnerungen an den Sepharad, ihre unwiederbringlich verlorene spanische Heimat. Es war ein Kummer, der ihnen schwer auf der Seele lag. Um die Gesichter und die Stimmung aufzuhellen, bat José Toledano seine Tochter, ihnen etwas zu singen. ›Eine deiner Romanzen, mein Kind‹, waren seine Worte. Rebecca weigerte sich zunächst. Bis sich unsere Blicke trafen. Ihre herrlich türkisblauen Augen auf mich geheftet, schien sie sich eines Besseren zu besinnen und stand auf. Stolz löste sie ihr safranblondes Haar, strich es mit einer anmutigen Kopfbewegung nach hinten und verkündete, eine Romanze von Diego de León vorzutragen.
Ich war wie vom Donner gerührt. Es war dies ein wunderschönes Lied, das ich meine Mutter viele Male hatte singen hören, da dessen Verse, wie sie mir einmal erklärte, die Geschichte unserer Vorfahren Clara und Diego erzählten, zu deren Ehren man ihr und mir deren Namen gegeben habe. Doch obschon meine Mutter eine sehr gute Stimme gehabt hatte, reichte sie nicht im entferntesten an Rebeccas heran, die so rein und klar war, daß eine dreisaitige Birnengeige zur Begleitung reichte:
In der alten Stadt Toledo
und in der von Granada
wuchs heran ein Jüngling
mit Namen Diego de León.
Er war von hohem Wuchs,
sonnengebräunt die Züge
und schlank dieTaille.
Eines schönen Tages verliebte er sich
in eine Jungfer von zarter Schönheit.
Vom Balkon aus hielt sie nach ihm Ausschau,
|122|
und erblickten sie sich einmal nicht,
behagte ihnen nichts und niemand.
Rebecca hatte mich bedeutungsvoll angesehen, während sie den jungen Burschen in dem Lied beschrieb, der ich in meiner Jugend wohl hätte sein können. Nun warteten wir alle darauf, daß die Geige den Refrain beendete, damit sie weitersänge.
Eines Tages, sie hatten sich heimlich getroffen,
sprach León zu seiner Dame:
›Ich kann nicht länger warten,
morgen halte ich um dich an.‹
Am nächsten Morgen in aller Frühe
trat er vor Don Pedro.
Auf Knien bat er ihn um die Hand seinerTochter.
›Don Pedro, gib mir deineTochter, Doña Clara.‹
›Meine Tochter ist noch nicht zu haben,
sie ist noch viel zu jung.‹
Zum Spotte des Bräutigams
berichtete dieser seiner Tochter:
›Dieser Kerl hat nicht einmal
Geld für einen Mantel.
Wer mein Schwiegersohn sein möchte,
bedarf zumindest hunderttausend Dukaten
und ebensoviel an Gold und Silber.
Denn ebensoviel werde ich dir geben,
Tochter meines Herzens.‹
Während die Geige den Refrain wiederholte, machte Rebecca erneut eine Pause. Ich war gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde, denn ich war mir nicht sicher, ob das Lied wirklich so ging oder ob Rebecca den Text bewußt abänderte, da die Summe der besungenen Mitgift mit den hunderttausend Dukaten ihrer eigenen übereinstimmte. Aber niemand schien sich zu wundern. Nur ich schien ihr Spiel zu |123| durchschauen, denn bei jeder Wendung der Geschichte blickte sie mich vielsagend an.
Doch ich hatte mich getäuscht. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich eine Gestalt am anderen Ende der Tafel erhob und sich aus dem Saal davonschlich. Es war Noah Askenazi. Bleicher denn je, schien der deutsche Jude ebenfalls bemerkt zu haben, was sich zwischen Rebecca und mir abspielte. An der Art, wie er den Raum verließ, merkte ich, welch tiefen Haß er auf mich empfand. Ich war indes wie verzaubert und wartete ungeduldig auf das Ende der Geschichte, die in der Version meiner Mutter gar nicht gut ausging.
Da setzte Rebecca wieder ein, und ihre Worte klangen, als spräche nicht das Mädchen der Romanze, sondern sie selbst zu ihrem eigenen Vater.
›Vater, ich bitte Euch,
gebt mich ihm zur Frau,
selbst wenn Ihr mir deshalb
nichts vermachen wollt.‹
Da wurde Don Pedro gewahr,
daß es wahre Liebe war.
Drum dingte er vier kühne Recken,
die größten Haudegen am Platz,
León zu töten.
Am Hang des Berges
lauerten die vier ihm auf.
Drei tötete er von eigner Hand,
den vierten traf er schwer.
Kaum drei Tage waren vergangen,
da befand León sich wieder in der Stadt
und lief wie zufällig
am Hause
Weitere Kostenlose Bücher