Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
zu ergründen. Sie horchte in sich hinein, betrachtete die heilige Mutter eingehend, erinnerte sich an Begegnungen mit ihr, als sie noch ein Kind war, Erinnerungen, mit denen sie eigentlich Liebe und Wärme verbinden sollte. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Nicht einmal ein Bedauern über den Tod der heiligen Mutter brachte sie in diesem Augenblick zustande. So viel war ihr klar: Die schreckliche Tat kam einem unvorstellbaren Frevel gleich. Wer immer die heilige Mutter getötet hatte, musste gefunden und gerichtet werden. Der Mörder hatte den Tod verdient. Sein Vergehen konnte nach den Schriften der Orna und der Bewahrer nur durch einen qualvollen und langsamen Tod gesühnt werden.
Elischas Überlegungen waren von einer Nüchternheit und Kälte geprägt, die ihr selbst vollkommen fremd waren. Ich möchte wissen, was die heilige Mutter herausgefunden hat , sagte sie sich, sie muss auf der richtigen Spur gewesen sein. Womöglich hat sie in ihrer Kammer den einen oder anderen Hinweis versteckt. Bestimmt ahnte sie, wer Lordmaster Kaysahan umgebracht hat und was hinter der Intrige gegen Madhrab steckt.
Eine unerwartete Hoffnung keimte in Elischa auf. Wenn es ihr gelänge, den entscheidenden Hinweis zu finden, der der heiligen Mutter das Leben gekostet hatte, konnte sie vielleicht die Zeremonie mit Chromlion verhindern und Madhrab aus dem Kerker befreien. Sie war sich sicher, dass Chromlion hinter der Tragödie steckte, um seinen Einfluss zu mehren. Er hasste Madhrab und wäre bestimmt zu allem fähig, um den Lordmaster zu beseitigen und an seine Stelle zu treten. Sie musste nur auf die richtigen Beweise stoßen und hoffte, dass die Mutter ihre fatale Erkenntnis nicht mit zu den Schatten genommen hatte.
*
Madhrab wusste nicht mehr, wie oft er inzwischen von Sick aufgesucht und gequält worden war. Er hatte das Gefühl, dass die Abstände zwischen den Besuchen zuletzt kürzer geworden waren, und mittlerweile aufgehört zu zählen. Die Bekanntschaft mit der Drachenpeitsche des Foltermeisters vor einigen Wochen hatte den Lordmaster beinahe das Leben gekostet.
Sick musste einen Heiler hinzuziehen, der den Gang zu den Schatten noch einmal zu verhindern wusste. Die Drachenpeitsche hatte tiefe und lange Narben am Körper des Bewahrers hinterlassen. Dennoch hatte sich Madhrab in der Folgezeit nicht aufgegeben und weiter fiebrig daran gearbeitet, die Ketten zu lockern, um endlich eine größere Bewegungsfreiheit zu erlangen.
Als der Lordmaster Sicks Laterne erneut durch die Tür scheinen sah, entlockte ihm das Licht lediglich ein verzweifeltes Lachen. Sick betrat die Zelle des Bewahrers in Begleitung eines völlig verwahrlosten und verdreckten Jungen.
»Eurem fröhlichen Lachen zufolge seid Ihr heute bestens gelaunt. Habe ich recht?«, sagte Sick, wohl wissend, dass es das Gelächter eines kurz vor dem Wahnsinn Stehenden war, der jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren hatte und dessen Verstand in den Abgrund zu rutschen drohte.
»Nein, habt Ihr nicht ... habt Ihr nicht. Nichts habt Ihr«, lachte Madhrab und verdrehte die Augen.
»Hier ...«, sagte Sick und hielt ihm einen zerbrochenen Spiegel vor das lädierte Gesicht, den der Junge mitgebracht hatte, »seht hinein und sagt mir, wen oder was Ihr darin erkennen könnt.«
Madhrab starrte in den Spiegel, aus welchem ihn die grotesk verzerrte Maske eines heruntergekommenen, gebrochenen Mannes anstarrte, der sich seit Monden nicht mehr gewaschen hatte und der den Schatten direkt in ihren weit geöffneten Schlund blickte. Er kannte den Mann nicht, der vor Staunen über sein Gegenüber den nahezu zahnlosen Mund öffnete. Madhrab zählte gerade noch fünf Zähne, drei oben und zwei unten. Das waren jene, die ihm Sick gnädigerweise gelassen hatte.
Die Augen des Mannes im Spiegel waren bis auf dünne Sehschlitze zugeschwollen; ebenso wie der Großteil des Gesichtes aus Schwellungen, Rissen, Schnitten, aufgeplatzten und verkrusteten Wunden sowie tiefschwarz verfärbten Blutergüssen bestand. Der Fremde im Spiegel trug einen ungepflegten Vollbart, der wenigstens einen Teil des zerschundenen Gesichtes verdeckte, und halblange, fettige Haare, deren ungewaschene dunkle Strähnen ihm ein wildes Aussehen verliehen. Madhrab meinte sich erinnern zu können, dass er sich, wie es bei den Bewahrern eigentlich Sitte war, den Kopf stets kahl geschoren hatte, um die rituellen Tätowierungen nicht zu verdecken.
Das bin ich nicht, dachte Madhrab. Tränen rannen über das Gesicht des Bewahrers.
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