Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
Begleitung ihres Bewahrers verlassen, ohne die heilige Mutter um Erlaubnis fragen zu müssen. Um diese Freiheit wurde sie von den anderen Ordensschwestern beneidet. Es gehörte zu ihren vornehmsten Aufgaben, den Kontinent Ell zu bereisen, zu helfen und zu heilen, wo immer die Hilfe einer Orna nötig war. Während ihrer Reisen sammelte sie Wissen und fertigte allerlei Aufzeichnungen an, die in den Archiven des Ordens aufbewahrt wurden. Seit der Gründung der Orden durch Ulljan wurde auf diese Weise verfahren. Die gesammelten Schriftstücke der Orna reichten weit in die Vergangenheit des Kontinentes zurück. Das angehäufte Wissen war daher von unschätzbarem Wert für die folgenden Generationen, und mit jeder weiteren Orna, die den Weg nach draußen beschreiten durfte, wurde es mehr.
Nur eine Orna konnte sich nicht über die Zeremonie freuen. Sie mied den Kontakt mit ihren Schwestern und ließ sich nur selten unter ihnen blicken. Die meiste Zeit des Tages saß Elischa teilnahmslos in ihrer Kammer, zermarterte sich den Kopf über mögliche Alternativen und Auswege. Vorerst hatte die heilige Mutter sie von ihren Pflichten im Haus entbunden, damit sie sich im Geiste auf die Zeremonie vorbereiten konnte. Sie war der Mutter dankbar dafür, doch aus einem ganz anderen Grund. Es half ihr, sich vor ihren Schwestern in die eigene Kammer zurückzuziehen und ihren neugierigen Blicken und Fragen auszuweichen. Aber wie lange sollte das Trauerspiel gut gehen?
Chromlion wird früher oder später bemerken, dass ich ein Kind erwarte, dachte sie, was soll ich nur machen? Das lässt sich nicht übersehen. Er wird mich des Verstoßes gegen die Ordensregeln anklagen und in den Kerker werfen lassen. So wie sie es mit Madhrab getan haben. O Madhrab, wie sehr ich dich jetzt brauchte. Wie mag es dir wohl ergehen? Was wird aus unserem Kind werden? Und was geschieht mit uns?
Zutiefst betrübt und voller Sorge harrte Elischa der Dinge, die unausweichlich auf sie warteten.
Früh am nächsten Morgen, die Sonnen von Kryson waren noch nicht vollständig aufgegangen, wurde sie durch ein fürchterliches Geschrei im Haus geweckt. Sie eilte hinaus in den Flur, um nachzusehen, was wohl die Ursache der Aufregung war. Einige ihrer Schwestern standen vor der Kammer der heiligen Mutter und unterhielten sich atemlos. Die Tür zur Kammer stand weit offen, davor hatte sich eine der älteren Orna breitbeinig platziert. Sie schrie das ganze Haus zusammen. Aus den anderen Kammern des Stockwerkes sowie aus den Fluren der übrigen Stockwerke kamen Orna und Schülerinnen angelaufen. Es wurden stetig mehr.
»Die heilige Mutter ist tot«, schrie die ältere Orna aus Leibeskräften.
Ihre Stimme überschlug sich und jagte Elischa einen kalten Schauer über den Rücken. Wie von alleine trugen ihre Beine Elischa zur Kammer der heiligen Mutter. Die dort versammelten Orna ließen sie, ohne zu murren, durch. Sie kannten die besondere Beziehung, die zwischen der heiligen Mutter und Elischa bestand. Sie betrat die Kammer und sah die heilige Mutter auf ihrem Bett liegen. Elischa hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie fürchtete, den Anblick nicht ertragen zu können und sich womöglich übergeben zu müssen. Mutter hatte Augen und Mund weit aufgerissen. Jemand hatte ihr den Hals durchgeschnitten. Es sah ganz danach aus, als ob die heilige Mutter im Schlaf überrascht worden war und erst im letzten Moment erschrocken realisiert hatte, dass ihr das Leben auf gewaltsame Weise genommen werden sollte.
Das an Hals und Mund ausgetretene Blut war größtenteils getrocknet. Ihr Körper war in eine Totenstarre verfallen, die Haut wirkte durchscheinend gelblich blass und wies zahlreiche blaue Flecken auf, an denen sich das Blut gesammelt hatte, nachdem das Herz aufgehört hatte zu schlagen.
Sie sieht wie nicht von dieser Welt aus. Ihr Gesicht wirkt, als sei es aus Wachs gegossen«, dachte Elischa. »Warum hat ihr niemand die Lider geschlossen?
Die Orna trat an die Seite der Toten und schloss ihr mit einer behutsamen Berührung die Augenlider. Es gab keinen Zweifel, die heilige Mutter war bereits vor einigen Horas zu den Schatten gegangen. Eine Untersuchung war überflüssig.
Warum fühle ich nichts?, kam Elischa ein überraschender Gedanke. Ihr Tod müsste mich schwer treffen. Die Trauer sollte mich vollkommen überwältigen. Immerhin hat sie mich aufgezogen. Ich habe ihr alles zu verdanken. Sie war meine Mutter. Aber ich empfinde ... nichts.
Die Orna versuchte ihre Gefühle
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