Kryson 02 - Diener des dunklen Hirten.epub
geströmt und wartete ungeduldig auf die eröffnenden Worte des obersten Praisters. Die meisten der Anwesenden wunderten sich, nachdem sie angestrengt auf das in der Mitte des Platzes neben dem Brunnen erhöht aufgebaute Holzpodest sahen, und versuchten einen Blick auf den dort aufgebahrten Leichnam des Regenten zu erhaschen. Acht von Kopf bis zu den Füßen in silbrig glänzende Gewänder verhüllte Praister hatten sich auf dem Podest versammelt und entlang des Geländers in gleichmäßigen Abständen verteilt. Doch was war das?
Nebeneinander waren auf reichlich mit edlen Stoffen, Bändern, Blumenkränzen und Schmuck verzierten Bahren zwei Leichname gebettet worden. Einer der Toten war unzweifelhaft Haluk Sei Tan. Er trug ein mit Kristallen besticktes Prunkgewand, das er mit zu den Schatten nehmen würde. Doch wer war der andere Tote?, fragten sich die neugierigeren Bewohner der Stadt, der ebenfalls in ein edles Gewand, wenn auch weit weniger aufwendig, gekleidet war. Vor die Bahren hatten die Praister einen grob aus schwarzen Stein gehauenen, massiven Quader aufgestellt, in dessen seitliche Einlassungen Fackeln gesteckt worden waren, die mit blauer Flamme brannten. Mehrere Bronzeschalen und ein gewaltiger Dolch waren auf dem Steinquader ausgelegt worden. Wie unschwer zu erkennen war, handelte es sich um einen Opferaltar, auf dem den Kojos das letzte Opfer dargebracht werden sollte, um diese gnädig zu stimmen und den Toten die Aufnahme in das Reich der Schatten zu erleichtern.
Raussa, die Tochter des Regenten, kam in Begleitung ihrer immer noch anmutigen Mutter Ukulja auf den Versammlungsplatz, flankiert von den Leibgardisten des Regenten. Schweigend beobachtete die Menge den Weg der blass wirkenden Raussa zum Podest, auf dem ihr verstorbener Vater aufgebahrt war, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Nach der erstaunlich früh erfolgten Verkündung über den Verzicht Ukuljas auf die Thronfolge wussten sie, dass Raussa den Thron des Kristallpalastes erben und schon bald die Nachfolge in der Regentschaft über die Klanlande antreten sollte. Viele hielten sie für zu jung und unerfahren, um als Regentin zu herrschen. Die Gerüchte über eine Affäre mit einem Bewahrer hatten ihre Spuren bei den Nno-bei-Klan hinterlassen und den Ruf Raussas nicht unbedingt verbessert. Sie wurde hinter vorgehaltener Hand belächelt, weil sie in ihrer mädchenhaften Naivität angeblich dem wesentlich älteren Lordmaster verfallen sei, der sie nach allen Regeln der Kunst verführt habe. Das war ein bösartiges Gerücht, das ihr selbst bereits zu Ohren gekommen war und das die Selbstsicherheit ihres Auftritts beeinträchtigte. Es entsprach in ihren Augen keinesfalls der Wahrheit, denn sie war es doch gewesen, die den Bewahrer seit ihrer ersten Begegnung für sich wollte, ihn täglich bearbeitet hatte und ihn schließlich in ihr Bett brachte. Wie sollte er ihren ständigen Verlockungen widerstehen und schließlich nicht ihrer Schönheit und dem Liebreiz erliegen? Er war ein Mann, einfach gestrickt in seinem Wesen und so leicht zu erobern. Sie wusste, wie sie ihre unübersehbaren weiblichen Reize einsetzen musste, um ihn für sich zu gewinnen. Und sie liebte ihn. Was konnte daran falsch sein? Lordmaster Kaysahan war gut aussehend, gebildet, stark und charmant. Seine Herkunft war tadellos, die Familie reich und mit Einfluss ausgestattet. Der Rang eines Lordmasters der Bewahrer war dem eines Fürsten durchaus gleich. Lediglich Haluk Sei Tan hatte diesen Status niemals anerkennen wollen. Wer außer ihrem Vater wollte ihre Wahl anzweifeln und sie dafür mit Naivität tadeln? Selbtsverständlich durfte sie niemandem sagen, dass sie den Lordmaster liebte. Fortan musste sie wohl oder übel mit den Gerüchten leben. Mochten der Hofstaat und die Klan denken, was immer sie wollten; sie war keinesfalls das naive Mädchen, das sie nach außen gerne vorgab zu sein. Sie würden schon sehen, wenn sie das Erbe ihres Vaters erst einmal angetreten hatte.
Eine bislang unbestätigte Nachricht hatte Raussa in den vergangenen Tagen allerdings erschüttert. Sollte es tatsächlich wahr sein, dass der Mann, den sie liebte, mit Gewalt zu Tode gekommen war, würde sie nicht eher ruhen, bis sie den Mörder Kaysahans ausfindig gemacht und einer gerechten Strafe zugeführt hätte. Diese konnte nur in einem Gang zu den Schatten angemessenen Ausdruck finden.
Trotz des massiven Schutzes durch die Leibgardisten und des Wissens um ihre künftige Rolle blickte sie sich
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