Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Insassen nicht zurück. Dorthin hatten die Eiskrieger Lordmaster Chromlion gebracht.
Elischa weigerte sich plötzlich weiterzugehen. Die Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Jeder Schritt, der sie dem verhassten Bewahrer näher brachte, war eine Qual. Das Gefäß konnte die Angst der Orna riechen und blieb stehen.
»Du wartest hier, bis ich mit Chromlion zurückkehre!«, sagte das Gefäß. »Komm nicht auf die Idee wegzulaufen. Du würdest dich im ewigen Eis verirren, erfrieren oder verhungern. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass du an dünner Stelle einbrichst und ertrinkst, bevor dir die Knochen gefrieren. Oder eine der zahlreichen hungrigen Gefahren in dieser Gegend findet Gefallen an deinem süßen Fleisch. Glaube nicht daran, dass dir eine Flucht gelänge. Ich finde dich, wo immer du dich verstecken solltest.«
Das Gefäß kramte einen in unregelmäßigem Leuchten pulsierenden Pflock aus seinem Gepäck hervor und wuchtete diesen mit drei kräftigen Schlägen ins Eis. Mit prüfendem Blick und dem erfolglosen Versuch, den Pflock wieder herauszuziehen, vergewisserte er sich, dass dieser fest im Boden saß. Dann band er Elischa daran fest.
»Sicher ist sicher«, meinte das Gefäß mit einem schiefen Lächeln, »Boijakmar sagte, ich solle den Frauen niemals trauen. Gib ihnen nicht die geringste Gelegenheit, meinte der Overlord. Sie seien listig und den Männern in mancherlei Hinsicht überlegen. Der Pflock wird die gefräßigen Tiere fernhalten.«
»Da lag der hohe Vater in seinem Urteilsvermögen wohl ausnahmsweise richtig«, zischte Elischa gehässig, die sich über die Maßnahme ärgerte, nahm sie ihr doch tatsächlich die Chance zur Flucht.
Tatsächlich hatte sie daran gedacht, die Gelegenheit der Abwesenheit für einen Fluchtversuch zu nutzen. Wenn es unbedingt sein musste, hätte sie sich direkt nach Harrak begeben. Dort, bei den Wächtern des Lagers, auf die Eiskrieger zu warten, wäre zumindest eine Möglichkeit gewesen, dem ihr drohenden Schicksal einer Begegnung mit Chromlion zu entgehen. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie den unmittelbar um das Lager führenden Ring der Schneetiger durchbrechen konnte, ohne von den ausgehungerten Tieren angefallen und gefressen zu werden. Die Räuber des ewigen Eises wurden von den Wächtern bewusst kurz- und aggressiv gehalten. Sie waren nicht mit denjenigen Schneetigern zu vergleichen, die den Eiskriegern für gewöhnlich von klein auf folgten.
Diese Schneetiger folgten ausnahmslos ihrem Instinkt und dem Jagdtrieb eines Raubtieres. Wenn sie Gelegenheit hatten, Beute zu machen, dann schlugen sie zu. Insgeheim hoffte Elischa, das Gefäß scheitere bei seinem Versuch, den Lordmaster zu befreien. Entweder an den Schneetigern oder an den Wachen oder an den Insassen selbst. Aber das Gefäß schien keine Angst zu kennen und machte sich mit einer Selbstsicherheit auf den Weg, die nichts und niemand erschüttern konnte. Elischa zweifelte deshalb rasch an ihrem Hoffnungsschimmer. Wahrscheinlich würde sie das Glück eines Scheiterns nicht erleben dürfen und musste sich langsam mit dem Gedanken vertraut machen, mit einem weiteren höchst ungeliebten Gefährten durch die Eiswüste reisen zu müssen.
Die aus Wut und Verzweiflung vergossenen Tränen gefroren auf ihren Wangen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit angezogenen Beinen in den Schnee zu setzen und abzuwarten, was geschah.
*
Wenn es einen Ort in den Klanlanden gab, der verdammt war, dann war es mit Sicherheit Harrak. Chromlion konnte sich seit seiner Ankunft im Lager keinen schlimmeren Platz vorstellen, an dem ein Klan seine Verbrechen sühnen konnte. Selbst das Verlies des hohen Vaters mutete gegen Harrak wie ein gemütliches Zuhause an. Die gelegentliche Folter zwischendurch war nichts gegen den alltäglichen Terror in Harrak, der niemals, weder am Tag noch in der Nacht, aufzuhören schien. Das Lager stellte sogar für den Bewahrer eine Herausforderung dar, die er sich allzu gerne erspart hätte. Drei seiner Männer hatten in der ersten Woche ihr Leben gelassen. Andere folgten nur wenig später. Chromlion hatte erst gar nicht angefangen, die Tage seit seiner Ankunft zu zählen. Andere Gefangene taten dies regelmäßig. Bis zu ihrem Tod. Manche von ihnen kamen nur bis zum ersten Tag, andere immerhin bis zum siebten, und danach wurde das Überleben erst richtig schwierig. Im Inneren des Lagers hatte sich zudem eine Hierarchie herausgebildet. Damit hatte der Bewahrer zwar gerechnet, aber er war
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