Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
ausreichendem Maße erholt. Er selbst konnte Eisbergen unmöglich verlassen. Thezael hätte ihn nach seiner Rückkehr in den Kristallpalast gewiss in einer der Folterkammern der Praister dafür zu Tode foltern lassen, und Henro hätte ihm in dieser Entscheidung aus ganzem Herzen zustimmen müssen. Seine Gedanken flogen hin und her, tendierten mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Tötete er Sapius und den Jungen, waren die Folgen unabsehbar. Henro glaubte nicht an die abenteuerlichen Geschichten um die Wiedergeburt der Lesvaraq. Wie sollte er auch? Er war ein Praister, dessen Lebensinhalt vom unerschütterlichen, alles rechtfertigenden Glauben an die Allmacht der Kojos und der Endgültigkeit der Schatten bestimmt war. Daneben durfte es nichts anderes geben. Wer etwas anderes vertrat, war ein Lügner und hatte den Gang zu den Schatten verdient. Die Erzählungen über die Lesvaraq, die sich teils sogar – zu Henros großem Bedauern – durchaus in ernst zu nehmenden Schriften wiederfanden, waren in seinen Augen uralte Legenden und verlogene Hirngespinste, die sich ungläubige Klan in langen Nächten ausgedacht hatten, um die Kojos zu verärgern oder ihnen gar abzuschwören. Die Klan brauchten etwas, an das sie glauben konnten, und natürlich war ein Wesen wie ein Lesvaraq, der tatsächlich über Ell wandelte – selbst wenn die ihm zugedachten Eigenschaften am Ende nur erfunden sein sollten –, weit näher an den am lautesten nach einer festen Hand blökenden Schafen dran und insoweit wesentlich greifbarer, als dies ein Kojos jemals sein konnte. Die Kojos hatten es in ihrer Göttlichkeit nicht nötig, sich den sterblichen Wesen zu zeigen. Aber sie hatten Kryson geschaffen und waren die Herren über Leben und Tod. Die Schatten waren ihre Verbündeten. Dies war der ewige Kreislauf des Lebens, der am Ende immer in den Schatten endete. Dass ein Sterblicher sich erdreisten konnte, die Existenz der Kojos überhaupt jemals in Zweifel zu ziehen, war Henro vollkommen schleierhaft. Sahen die Klan denn nicht, welchem Irrtum sie aufsaßen, wenn sie ein lebendiges Wesen aus Fleisch und Blut den Kojos vorzogen. Das war ein unverzeihlicher Frevel in seinen Augen. Das Gerede über das Gleichgewicht und die Macht ging ihm auf die Nerven. Er verstand es nicht. Das hatte doch keinerlei Bedeutung für die Kojos, die über allem standen. Sie entschieden über Leben und Tod. Magie gab es nicht, durfte es nicht geben. Jedenfalls nicht diejenige Magie, die nicht von den Kojos in die treuen Hände der Praisterschaft gegeben worden war. Wer etwas anderes behauptete, musste zum Schweigen gebracht werden. Zu gerne hätte er den Lästermäulern bewiesen, wie falsch sie lagen und dass dieses Überwesen eines Lesvaraq sterblich wie jeder andere war.
Henro warf sich auf seinem Lager unruhig hin und her. Was sollte er tun? Eine Antwort auf die drängenden Fragen würde ihm Thezael nicht geben können. Selbst wenn er einen Boten bis in den Kristallpalast durchbrächte, würde dieser womöglich auf dem Rückweg nach Eisbergen scheitern. Das wäre nicht weiter schlimm, aber eine solche Botschaft in den falschen Händen wiederzufinden, würde Thezaels und sein sicheres Ende, ja vielleicht sogar das der Praisterschaft bedeuten. Soweit der Praister gehört hatte, war in Tut-El-Baya das Chaos in den Straßen ausgebrochen. Krankheit, Tod und Dunkelheit stritten sich um die Vorherrschaft. Er war daher froh, im Augenblick möglichst weit entfernt von der Hauptstadt zu sein. Die Chancen, einen Besuch in der Stadt heil zu überstehen, wurden allgemein als gering eingestuft.
Er fand keinen Schlaf und war mit seinen Überlegungen auf sich alleine gestellt. Tötete er den Fürsten, konnte ihm Thezael jedenfalls keinen Vorwurf machen. Damit hatte er ihn schließlich beauftragt und nicht etwa von ihm verlangt, sich auf veränderte Situationen einzustellen. Immer wieder drängte sich ihm die Frage auf, warum er überhaupt an diesem Vorhaben zweifelte? Wollten sie den Anspruch des Fürsten auf die Regentschaft verhindern, mussten sie Corusal Alchovi so oder so beseitigen. Andererseits hatte er den Fürsten als äußerst besonnenen und guten Klan kennengelernt, dessen Herz an seiner Stadt und besonders an deren Einwohnern hing, die er im Gegensatz zu anderen Fürsten nicht als Untertanen, sondern als seine Freunde bezeichnete.
Die Klan in Eisbergen liebten ihren Fürsten. Außerdem war er ein exzellenter und zuvorkommender Gastgeber, der es verstand,
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