Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
unermüdlich Zoll um Zoll die steilsten Felswände hochgekrochen, nur um mich hier oben zu besuchen«, antwortete der Prinz, ohne seine Lippen zu bewegen.
»Ihr wusstet, dass ich kommen würde, Euch zu sehen?«
»Ach Goncha«, seufzte der Prinz, »wie lange kennen wir uns schon? Du weißt, dass ich dich überall auf Kryson erreichen kann.«
Der Prinz verzog seine Lippen zu einem Grinsen und bleckte die Zähne. Er besaß ein Gebiss aus Stein mit breiten Zahnschaufeln, die eher zum Zermahlen fester Nahrung als zum Zerreißen von Fleisch und Knochen geeignet waren. Goncha kletterte am Stiefel über die Beine und den Rücken empor auf die Schulter des Prinzen, ließ sich dort nieder und begann sein Fell gründlich zu putzen, während er dem Steinernen antwortete.
»Mein ganzes Leben schon. Und vor mir mein Vater, Großvater, Urgroßvater und dessen Ahnen wiederum. Es scheint mir eine Ewigkeit zu sein, und wir geben unser Wissen über Euch von Generation zu Generation zu Generation an unsere Nachkommen weiter« – der Felsenfreund wiegte seinen Kopf hin und her – »ich hatte so ein Gefühl, als hättet Ihr mich zu Euch gerufen.«
»Das stimmt. Ich sandte meine Stimme durch die Felsen. Kryson verändert sich. Die Zeit der Dämmerung bricht an. Geh und wecke die Felsgeborenen aus ihrem fortwährenden Schlaf. Berichte meinem Vater, was Vargnar gesehen hat. Sie sollen sich bereithalten. Bald wird es Zeit, aufzubrechen. Wir werden an die alten Stätten zurückkehren und uns wieder holen, was einst uns gehört hat.«
»Ihr wünscht, dass ich zu den Steingräbern gehe?«, unterbrach der Felsenfreund das Putzen und sah Vargnar ängstlich von der Seite an.
»Ja, du warst schon einmal dort und wirst den Weg mühelos finden. Fürchtest du dich etwa?« Dem Prinzen war der Stimmungsumschwung der Pelzechse nicht entgangen.
»Die Golemwächter der Gräber werden mich wie einen Wurm zwischen ihren fetten Zehen zerquetschen, wenn sie mich dort entdecken sollten«, jammerte Goncha.
»Du brauchst dich nicht vor ihnen zu fürchten. Die Wächter sind seelenlose Wesen, die von uns geschaffen wurden, um die Feinde der Felsgeborenen von der Schlafstätte meines Volkes fernzuhalten. Sie sind unfertig, besitzen weder Sinn noch Verstand und folgen meinen Befehlen in bedingungslosem Gehorsam. Sie werden meiner Weisung folgen und dich in Ruhe gewähren lassen. Du bist ein Felsenfreund und kein Feind.«
»Unheimlich sind sie mir trotzdem, mein Prinz. Sie mögen mich nicht sonderlich.«
»Unsinn, Goncha. Sie fürchten sich vor dir, weil du ihnen so viel voraushast. Ein so kleines, friedfertiges und höchst nützliches Wesen, vor langer Zeit geschaffen von einem Lesvaraq als Geschenk für die Burnter. Niemand außer den Felsgeborenen ahnt, welch intelligentes und magisches Wesen in den Felsenfreunden tatsächlich steckt. Du wirst dich also, gleich nachdem ich dir die Botschaft für meinen Vater mitgeteilt habe, auf den Weg zu den Steingräbern der Felsgeborenen machen.«
»Ihr habt fürwahr ein Herz aus Stein, mein Herr.«
»In der Tat, Goncha. Du hast recht«, lachte der Prinz der Felsgeborenen, »… und selbst du wirst es nicht erweichen können. Wecke den König und sein Gefolge. Es ist wichtig, dass sie sich bereithalten.«
»Sehr wohl, Prinz Vargnar«, nahm Goncha den Befehl des Prinzen ergeben entgegen, »der König der Felsgeborenen wird sich gewiss über Nachricht von Euch freuen.«
»Das weiß ich nicht. Aber es wird ihm neue Hoffnung geben. Hör gut zu und vergiss nicht, was ich dir sage. Die Steine sprachen fortwährend zu mir«, fuhr Vargnar fort, »ich lauschte ihnen, entschlüsselte ihre rätselhaften Botschaften wieder und wieder, drehte und wendete jedes Geräusch, jedes Klopfen, Flüstern und jeden Hinweis in alle erdenklichen Richtungen, bis ich verstand, was sie mir mitteilen wollten. Zwei Kinder wurden jüngst geboren. Außergewöhnliche Kinder, die mit den Insignien der Macht gezeichnet sind. Das Zeichen der Sonnen und des Mondes zieren ihre Haut. Weder ein Brandzeichen noch eine Tätowierung. Ein Muttermal, das sie von Geburt an tragen. Eines wurde in den Wäldern geboren, das andere unweit von hier im ewigen Eis des Nordens. Sie sind die wiedergeborenen Lesvaraq, und doch sind sie anders, vielleicht stärker als die alten Lesvaraq es je waren. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber die Kinder schweben in Gefahr. Noch sind sie ihren Widersachern hilflos ausgeliefert. Ihre Kräfte müssen wachsen und sie müssen
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