Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
vor, denn in ihrem Innersten wusste sie aus Erfahrung, dass das prächtige Farbenspiel der Sonnen – wenn das Gleichgewicht zwischen Tag und Nacht wechselte – sie nicht über den ständigen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit täuschen durfte. Dies war nur ein kurzer Moment des Durchatmens, in welchem sie ihre Seele baumeln lassen konnte. Kryson war eine grausame und gnadenlose Welt. Es war ihr alles genommen worden. Ihr kümmerliches Leben im Hause Fallwas war nichts wert. Sie war eine Gefangene, deren Leben nutzlos verschwendet wurde. Sonnenwende für Sonnenwende. Elischa hatte nichts mehr zu verlieren. Die Ruhe der letzten Sonnenwenden war nichts als ein schier unerträgliches Warten auf den großen, verheerenden Sturm, der ihre Welt erneut ins Chaos stürzen würde. Sie hatte genug Verzweiflung gesehen.
Die Wachen beachteten die Orna nicht. Anfangs waren sie vorsichtiger gewesen und wollten Elischa den Zutritt zu den Türmen nicht gestatten. Doch sie versprach, die Wachen nicht zu stören und nichts anzustellen, was sie in Schwierigkeiten brächte. Schließlich hatten sie Elischa gewähren lassen und sich an ihre morgendliche Anwesenheit gewöhnt. Sie war eine niedere Magd, was konnte sie schon tun, und selbst wenn sie sich dazu entschließen sollte, ihrem Leben ein Ende zu setzen und sich in die Tiefe zu stürzen, wen kümmerte das.
Elischa musste an Madhrab denken. Der Bewahrer war nicht gekommen, wie er es versprochen hatte. Es war so lange her. Sie hatte in letzter Zeit Mühe, sich sein Bild vor Augen zu rufen, obwohl sie es in der Vergangenheit wieder und wieder getan hatte. Doch sosehr sie ihn auch geliebt und vermisst hatte, war sie machtlos gegen die allmählich verblassende Erinnerung. Erging das nicht jedem Wesen so? Die Schatten der Vergangenheit wurden dichter und irgendwann lag über allem der Mantel der Vergessenheit. Das war der Lauf der Dinge. Nichts währte ewig. Aber vielleicht lag genau hierin die Hoffnung. In tausend Sonnenwenden würde sich niemand mehr an sie und Madhrab erinnern. Das Leid ihres Lebens hatte ein Ende. Elischa war sich sicher, es war nicht wichtig genug, um die Ewigkeit zu überdauern. Natürlich glaubte sie sich daran erinnern zu können, wie Madhrab war, wie er geduftet hatte, den Klang seiner Stimme und wie sich seine Nähe anfühlte, wenn er sie in die Arme genommen hatte. All dies löste in ihr ein Wohlgefühl aus, ohne sich noch genauer vorstellen zu können, wie es sich tatsächlich anfühlte. Der Verlust seiner Bilder bedrückte sie und ließ Elischa zuweilen panisch werden. Ihr Herz schlug bis zum Hals und sie dachte, sie müsste ersticken. Erst wenn sie sich wieder auf sich selbst besann, konnte sie sich beruhigen. Das Bild der aufgehenden Sonnen half ihr dabei.
»Heda!«, rief ein Turmwächter laut.
Elischa schrak aus ihren Gedanken hoch und sah sich mit zwischen den Schultern eingezogenem Kopf geduckt und ängstlich um. Sie war offensichtlich nicht gemeint. Die anderen beiden Turmwächter kamen herbeigelaufen und blickten in die Richtung, die er ihnen zeigte. Die Orna folgte mit den Augen dem weit über das Geländer lehnenden Turmwächter und entdeckte zunächst nicht viel mehr als eine sich bewegende Staubwolke, die zwar größer wurde, aber nur langsam näher zu kommen schien. Das vielfältige Farbenspiel der Morgendämmerung machte es schwierig, mehr zu erkennen. Aber schließlich gelang es ihr doch, einzelne Schatten und Konturen auszumachen. Unter der Staubwolke befanden sich Reiter, dessen war sie sich sicher. Wie viele es waren, vermochte sie nicht auszumachen. Der Größe der Staubwolke nach zu urteilen, mochten es vielleicht zwanzig oder mehr Reiter sein. Sie waren noch weit entfernt und würden nach ihrer Einschätzung erst gegen Mittag bei der Burg eintreffen, wenn sie denn überhaupt diese Richtung beibehielten. Normalerweise kein Grund für die Wächter, sich Sorgen machen zu müssen. Dennoch reagierten sie in höchstem Maße alarmiert und nervös. Einer der Wächter lief zu der nächsten Glocke, einem massiven und schweren, reichlich verzierten Meisterstück von einer Glocke und weckte die Burg mit den lauten und durchdringenden Glockenschlägen.
Was hatten sie gesehen, das ihr entgangen war? Elischa musste sich noch einmal vergewissern, kniff die Augen zusammen und entdeckte etwas, das sie zusammenzucken ließ. Für einen kurzen Moment fiel ein Sonnenstrahl auf einen der Reiter. Elischa glaubte, ihr Herzschlag setze aus und sie fiele gleich
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