Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
Feind zu empfangen. Eine Stimme zerriss die Stille der Tsairu. Sie war klar und deutlich zu vernehmen. Und ließ keinen Zweifel darin aufkommen, was sie begehrte.
»Chromlion«, erklang der Name des Fürsten voller Verachtung, »kommt heraus und stellt Euch Eurem letzten Kampf!«
Der Fürst hatte seine Rüstung längst angelegt. Es war lange her, seit er diese das letzte Mal getragen hatte. An Bauch, Armen und Beinen in den vergangenen Sonnenwenden zugelegt, hatte er durchaus Mühe gehabt, sich hineinzuzwängen. Aber schließlich hatte sie, an der einoder anderen Stelle zwar zu eng und drückend, doch gepasst. Die Stimme des Rufers war unverkennbar die des verhassten Mannes aus den Bergen, dessen Familie er vor langer Zeit abgeschlachtet hatte. Madhrab.
»Chromlion«, ertönte die Stimme erneut, »öffnet das Burgtor und zeigt Euch. Uns ist nicht daran gelegen, die Festung Fallwas zu erobern. Aber Ihr kennt mich. Ich werde nicht zögern, Euer Zuhause dem Erdboden gleichzumachen, Stein um Stein abzutragen und Euch herauszuzerren, solltet Ihr Euch hinter den Mauern und Euren Kriegern verstecken wollen. Es wird keine Gnade geben. Entscheidet Euch. Mann gegen Mann oder ein Sterben für alle und jeden, den ich in der Burg lebend vorfinde.«
»Öffnet das Tor«, befahl Chromlion dem Torwächter nach einer Bedenkzeit.
Nachdem Elischa sich beruhigt und ihre Fassung wiedergefunden hatte, war sie zurück auf den Turm gegangen. Von hier oben hatte sie einen guten Überblick und konnte sowohl in den Innenhof der Burg sehen als auch, was sich vor den Mauern abspielte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie erkannte den in der roten Rüstung steckenden Krieger kaum wieder. Der Mann mit dem Blutschwert in der Hand hatte zwar die Statur und die Größe von Madhrab, war aber im Gegensatz zu Chromlion, dessen Gesicht nach wie vor erstaunlich glatt und jung geblieben war, offensichtlich stark gealtert. Der graue Bart und der Haarzopf verliehen Madhrab ein weises Aussehen, obwohl sie ihn nach außen auch härter, verwegener und grausamer erscheinen ließen, als Elischa ihn in Erinnerung hatte. Die Stimme war zwar rauer geworden, aber gehörte eindeutig Madhrab. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er ihretwegen gekommen war und nach einer Entscheidung suchte.
Elischa erschrak, als sie bemerkte, von wem sich Chromlion vor die Mauern begleiten ließ. Er war seinerseits auf den Rücken eines schwer gepanzerten Rosses gestiegen und ließ sich von ihren Söhnen durch das Burgtor reitend nach draußen begleiten. Hinter dem Fürsten hatte Nihara ein Pferd bestiegen und folgte ihrem Vater und den Brüdern. Die Orna hoffte, dass sich Madhrab nicht durch den Anblick ihrer Kinder ablenken ließe. Immerhin sah ihr Nihara sehr ähnlich. Die Absicht des Fürsten erkennend fürchtete sie, der Anblick der Tochter und der Söhne könnte allzu schmerzlich für Madhrab sein. Doch dies war nicht die einzige Sorge, die sie drückte. Nie zuvor hatte sie für ihre Kinder etwas empfunden. Sie hatte sie sogar gehasst, Bis sie ihr irgendwann gleichgültig geworden waren. Aber jetzt, im Angesicht des Mannes, den sie so sehr liebte, hatte sie Angst um das Leben ihrer Söhne und das ihrer Tochter Nihara. Wie würde Madhrab reagieren? Würde er Tochter und Söhne in seiner Enttäuschung und Wut erschlagen? Die Orna verstand sich und ihre Gefühle selbst nicht mehr. Warum begann das Herz einer Mutter ausgerechnet jetzt in ihr zu schlagen?
»Madhrab«, begrüßte Chromlion seinen ärgsten Feind, »ich muss gestehen, dass ich Euch für tot hielt. Ihr habt sehr lange gebraucht, um zu uns zu finden. Als ich Eure Familie erschlug … wartet … lasst mich nachdenken, das liegt gut vierundzwanzig Sonnenwenden zurück, dachte ich, wir würden uns eher begegnen. Aber Ihr seid mir durch unglückliche Umstände entwischt.«
»Ich lebe und stehe vor Euch, Chromlion«, antwortete Madhrab, »Ihr habt mir alles geraubt. Meine Familie, meine Liebe und mein Leben. Jetzt werdet Ihr dafür bezahlen.«
»Wohlan, alter Mann«, lächelte der Fürst überheblich, »ich habe Euch jemanden mitgebracht. Seht Euch die Gesichter meiner Begleiter genau an. Das sind Elischas und meine Tochter und Söhne. Die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter könnt Ihr nicht übersehen.«
Madhrab schwieg und musterte die Männer an Chromlions Seite kritisch. Sein Blick blieb schließlich auf dem Antlitz Niharas hängen. Der Anblick der jungen Frau versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, der ihn wanken ließ.
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