Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
tot über die Brüstung. Hatte sie sich in ihrer Wahrnehmung getäuscht? Aber die Orna sah ausgezeichnet. Sie besaß die Augen einer Naiki-Jägerin, die selbst im höheren Alter nicht nachgelassen hatten, und die geschulten Blicke der Turmwächter und deren Reaktion bestätigten ihr, dass sie richtig gesehen haben musste. Ein rotes Leuchten umgab den Anführer der Reitergruppe.
Madhrab! Bei allen Kojos, wie ist das möglich?, dachte Elischa.
Der Bewahrer musste tot sein. Wie sonst war es denkbar, dass er in dreiundzwanzig Sonnenwenden nicht nach ihr gesucht und sie aus den Händen der Fallwas befreit hatte. Chromlion war der Todfeind des Lordmasters, und Madhrab hätte längst die Auseinandersetzung gesucht, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Irgendetwas musste ihn aufgehalten haben oder er war aus den Schatten und der Dunkelheit zurückgekehrt, um Rache zu nehmen. Die Gedanken rasten ungeordnet durch ihren Kopf. Plötzlich kamen all die Gefühle in ihr hoch, die sie längst vergessen glaubte. Das Hoffen und Bangen nahm seinen festen Platz ein. Obwohl ihr nach wie vor kalt war, begann sie plötzlich zu schwitzen.
In der Burg herrschte schnell hektische Betriebsamkeit. Aus allen Gebäuden und Türmen kamen, alarmiert vom Klang der Glocke, Wachen, Bedienstete und Krieger gelaufen, die sich im Innenhof versammelten. Chromlion selbst war lediglich in seine Stiefel geschlüpft und hatte sich einen Mantel umgeworfen, um sich nach der Ursache des Aufruhrs zu erkundigen.
»Was ist los?«, hörte Elischa den Fürsten rufen.
Die Orna duckte sich hinter die Brüstung des Turmes, damit sie von Chromlion nicht gesehen wurde.
»Reiter!«, beugte sich einer der Wächter vor, um dem Fürsten zu antworten. »Sie kommen von Norden. Und sie sind schnell unterwegs.«
»Wie viele und wann werden sie hier sein?«, wollte Chromlion wissen.
»Wir haben dreißig gezählt. Bei dieser Geschwindigkeit müssten sie zur Tsairu vor dem Burgtor stehen«, rief die Turmwache.
»Dreißig?«, wunderte sich der Fürst. »… und deshalb ruft ihr die ganze Burg zusammen?«
»Verzeiht, Herr«, antwortete die Turmwache, »wir glauben, es handelt sich um Sonnenreiter. Der Anführer trägt eine im Licht rot schimmernde Rüstung. Wir dachten, das solltet Ihr wissen.«
Chromlion stand wie angewurzelt im Innenhof seiner Burg und starrte ungläubig zu den Wachen auf dem Turm. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, als hätte er einen schrecklichen Dämon gesehen, der ihm nach dem Leben trachtete. Er brauchte lange, bis er sich von der Stelle bewegte.
»Beobachtet die Reiter und lasst sie keinen Moment aus den Augen«, rief Chromlion schließlich, »ich ziehe mich an und komme nach oben.«
Der Fürst erteilte den Wachen und Kriegern barsch einige Befehle und ließ die Türme mit Bogenschützen verstärken.
So schnell sie ihre Beine trugen, verließ Elischa den Turm, rannte die Treppen hinunter bis in ihre Kammer. Blass und atemlos ließ sie sich auf ihr Lager fallen und weinte. Weinte, bis sie keine Tränen mehr übrig hatte.
Das Fürstenhaus der Fallwas fest im Auge trieben die Reiter ihre Pferde zu schnellerem Gang an. Madhrab führte die Gruppe an und schonte weder sich selbst, die Gefährten noch die Pferde. Sie waren die Nacht durchgeritten, hatten sich und ihren Rössern lediglich zwischendurch kurze Rasten gegönnt, um die Tiere abzureiben, etwas zu essen und zu trinken. Das Ziel ihres Rittes lag greifbar nahe vor ihnen und blies die bleierne Müdigkeit aus ihren Köpfen und Knochen. Keiner wagte Madhrab anzusprechen, der wie ein unermüdlicher Geist voranritt. Sie alle wussten, dass er in der Grube Zeit verloren hatte und nicht eher ruhen würde, bis er seine Feinde besiegt und Elischa endlich gefunden hatte. Die Zukunft danach blieb jedoch für sie alle ungewiss.
Als sich die Sonnen gegen Mittag überkreuzten und die Tsairu die Burg und die Umgebung in ein tiefes Rot tauchte, hatten die Reiter das Fürstenhaus der Fallwas erreicht. An den Flanken der Rösser klebte der Schaum ihres Schweißes. Ihr schweres Schnauben, das Klirren ihres Geschirrs und das Knarren der Sättel durchdrangen die ansonsten vorherrschende bedrückende Stille. Als ob Kryson den Atem angehalten hätte und die Zeit stillstand, reihten sich die Reiter nebeneinander auf und blickten schweigend auf die vor ihnen liegenden Mauern der Burg. Dort hatte sich die Verteidiger zahlreich auf den Mauern und Türmen verteilt, jederzeit bereit, den möglichen
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