Kryson 04 - Das verlorene Volk
Ein Leben einfach so wegzuwerfen ist eine Schande.«
»Gewiss«, erwiderte Daleima, »aber wir haben leicht reden. Wir sind als Wächter des Buches unsterblich. Und du solltest nicht vergessen, dass jeder Sterbliche nur ein eingeschränktes Maß an Leid, Verzweiflung und Schmerz ertragen kann. Die Leidensfähigkeit mag unterschiedlich stark ausgeprägt sein, aber sie erreicht irgendwann bei jedem ihre Grenzen. Selbst bei uns.«
»Du hast sicher recht«, nickte Tarratar, »sie haben viel durchgemacht in den vergangenen Sonnenwenden, und es ist niemals leicht, die Liebe eines Lebens zu verlieren und danach weiterleben zu müssen.«
»Wem sagst du das, Tarratar«, sagte Daleima betrübt, »bevor ich vor langer Zeit zur Wächterin wurde, habe ich meinen Geliebten an die Schatten verloren. Wie du wohl weißt, ist dies einer der Gründe, warum ich mich überhaupt dazu bereit erklärte, die Wacht vor der zweiten Schwelle zu übernehmen.«
»Aber du hast ihn in den Schatten nie gefunden, nicht wahr?«
»So ist es!«, bestätigte Daleima leise.
»Das tut mir leid für dich«, meinte Tarratar.
»Inzwischen habe ich ihn vergessen«, meinte Daleima, »ich kann mich schon lange nicht mehr an den Klang seiner Stimme erinnern oder daran, wie er aussah. Nicht einmal seinenNamen konnte ich mir merken. Das ist der Vorteil, wenn man so lange wie ich unter den Schatten verweilen muss.«
»Du solltest es künftig wie ich halten«, riet Tarratar augenzwinkernd, »verliebe dich niemals, und wenn du denkst, du bräuchtest Spaß, dann greif bei der nächsten Gelegenheit zu und nimm ihn dir einfach.«
»Wir wissen alle, dass du in dieser Hinsicht sehr speziell veranlagt bist, Tarratar«, lachte Daleima, die ihm dankbar war, denn er schaffte es doch immer wieder, sie aufzuheitern.
»Was soll das bedeuten?«, versuchte Tarratar empört zu klingen.
»Alter Lustzwerg!«, neckte ihn Daleima.
»Das verbitte ich mir«, erwiderte Tarratar laut.
Das Gespräch erschien Tomal zu albern. Er zog es vor, nicht länger zuzuhören, obwohl es ihm schwerfiel, die Stimmen der Wächter auszublenden. Immerhin unterhielten sie sich offensichtlich unmittelbar neben ihm. Aber er konnte daraus keine für ihn hilfreichen Informationen und Schlüsse ziehen. Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf seinen Körper. In seinen Zehen und Fingern kribbelte es. Er versuchte sie sofort zu bewegen und war erleichtert, als er schließlich feststellte, dass er die Kontrolle wiedererlangte. Das Kribbeln wanderte von den Zehen über die Füße in seine Beine und von den Fingern in die Arme, die er plötzlich wieder bewegen konnte. Er stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab, stemmte sich hoch und blickte in die verdutzten Gesichter der beiden Wächter.
»Sieh an«, lächelte Tarratar spöttisch, »die Statue kann stehen.«
»Und das, obwohl sie noch nicht vollständig zum Leben erwacht ist«, ergänzte Daleima.
»Also, ich weiß nicht«, setzte Tarratar seine Rede fort, »konnte er denn vorher schon stehen?«
»Jedenfalls nicht in der Arena«, meinte Daleima.
»Aber er hat dich besiegt«, erwiderte Tarratar.
»Ja, indem er unehrenhaft gegen die Vereinbarung verstieß und entgegen unserer Wahl für den Kampf auf ein Galwaas zurückgriff, nachdem er schon geschlagen war.«
»Hoi, hoi, hoi … unlautere Mittel. Er hat sich den Sieg also erschlichen.«
»So kann man das nicht sagen«, schüttelte Daleima den Kopf, »die Regeln des Kampfes haben ihm den Einsatz des Galwaas nicht verboten. Aber ehrenhaft war der Sieg nicht.«
Tomal ärgerte sich über die Worte der Wächter, obwohl er wusste, dass sie wahr sprachen. Was sollte er tun? Sich für seinen Sieg entschuldigen, seine Ehre wiederherstellen? Das war in seinen Augen unnütz. Er hätte es sich nicht leisten können, gegen Daleima zu verlieren und in den Schatten zu verschwinden. Der Lesvaraq strengte sich an, versuchte seine Muskeln anzuspannen. Teile seines Körpers und einige Gelenke waren jedoch nach wie vor hart wie Stein. Tomal wollte einige Schritte gehen, aber er wirkte steif und unbeholfen dabei. Der Lesvaraq wankte gefährlich und drohte zu stürzen. Daleima sprang sofort an seine Seite und stützte ihn.
»Eines müssen wir ihm lassen«, sagte Tarratar, »er besitzt einen eisernen Willen.«
»Wie wahr«, nickte Daleima zustimmend, »eines Tages wird Tomal mächtig sein und wir können nur hoffen, dass er sich dann nicht daran erinnern wird, wie wir über ihn gescherzt haben.«
»Das werde
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