Kryson 04 - Das verlorene Volk
sehr wohl, wessen Kind Tomal war. Aber der Magier schwieg zur Sicherheit des Lesvaraq.
Dennoch kamen bei den älteren Bediensteten des Eispalastes Gerüchte auf. Unschöne und höchst unerfreuliche Reden. Sie fragten teils offen, teils hinter vorgehaltener Hand, ob die Fürstin ihrem verstorbenen Gatten stets treu gewesen war. Oder hatte Corusal womöglich von der Untreue seiner Frau gewusst und sie darin unterstützt, weil er selbst nicht zeugungsfähig gewesen war? Die wilden Spekulationen rissen nicht ab und nahmen an Offenheit zu, je älter der Lesvaraqwurde. Doch weder Alvara noch Sapius unternahmen etwas dagegen. Gefährlich wurden die bösen Zungen nur dann, wenn sie den Anspruch auf die Herrschaft über das Fürstentum der Alchovi offen infrage stellten. Dies jedoch wusste Tomal stets mit seiner herrschaftlich strengen und arroganten Art zu unterbinden. Der Lesvaraq duldete keine Widerrede und schreckte nicht vor Bestrafungen zurück, was unter Corusal Alchovi in dieser Härte undenkbar gewesen wäre. So manche Zunge wurde herausgeschnitten, das ein oder andere allzu neugierige Auge geblendet. Und diejenigen, die das Vertrauen des Lesvaraq endgültig verspielt hatten – was ohne besonderen Anlass geschehen konnte –, fanden sich als Gefangene in Harrak wieder, um dort ihr Leben im ewigen Eis meist vorzeitig zu beenden. Obwohl ihm die Klan seines Fürstentums nach wie vor unverändert die Treue hielten, wurde Tomal Alchovi unter seinen Bediensteten und den Eiskriegern gefürchtet. Während Sapius die persönliche Entwicklung und die Anwandlungen des jungen Fürsten große Sorgen bereiteten, winkte der Eiskrieger Baylhard meist nur beschwichtigend ab.
Seit Hassards überraschendem Gang zu den Schatten vor sechs Monden hatten die Eiskrieger den alternden Moldawarjäger zu ihrem Anführer auserkoren. Baylhard hatte in den vergangenen Sonnenwenden nichts an Stärke und Ausstrahlung eingebüßt. Er war ganz der Alte geblieben, stets der bärbeißige, sture und Furcht einflößende Krieger, der sich einst bei Corusal Alchovi vorgestellt hatte und sich durch nichts und niemanden irritieren ließ. Sein Wort war Gesetz unter den Eiskriegern, auch wenn er nicht viele davon machte.
»Wer ein Volk führen will, muss Härte zeigen«, pflegte der Anführer der Eiskrieger manchmal zu sagen, wenn es besonders schlimm war und er zum Reden aufgefordert wurde. »Härte gegen sich selbst und andere. Auch wenn uns die Entscheidungen und Handlungen unseres Herrn nicht gefallen,müssen und werden wir seinen Befehlen Folge leisten. Wir dienen ihm aus freien Stücken. Er ist unser Fürst. Und wir haben ihm ewige Treue geschworen.«
Ewige Treue. Sapius konnte mit diesem Begriff nichts anfangen. War dies wirklich erstrebenswert? Was bedeutete Ewigkeit für einen Langlebigen wie ihn oder etwa für den Lesvaraq? Was durfte er unter Treue verstehen? Bestand Treue in ihrer Beziehung nicht nur aus einseitigen belastenden Verpflichtungen, die ausschließlich Sapius zu erfüllen hatte und die ihm bei all der Aufopferung nicht ein Wort des Dankes eingebracht hatten? Sicherlich ging es vielen anderen ebenso wie ihm. Sie wurden für ihre Gutmütigkeit ausgenutzt. Für Sapius hatte der Begriff der ewigen Treue einen bitteren Beigeschmack.
Hatte der Wanderer Sapius damals in seinen Träumen wirklich die Wahrheit gesagt oder hatte er ihn nur auf einen anderen Weg bringen wollen? Auf den Weg des Wanderers? Wer war er? Was wollte der Gesichtslose? Warum hatte Sapius auf die Traumerscheinung gehört? Wie konnte er sein Leben einem Lesvaraq widmen, der in seinem ganzen Wesen überheblich war und anderes Leben geringschätzte? Nicht einmal den ihm loyal ergebenen Eiskriegern zollte Tomal den notwendigen Respekt, den Sapius für angemessen hielt. Wären die magischen Brüder am Ende doch die bessere und richtige Wahl gewesen?
In jenen Tagen, in denen Sapius noch den Saijkalrae gedient und schon einmal an sich selbst gezweifelt hatte, war er als Saijkalsan nicht viel anders gewesen als der junge Fürst heute. Auch er hatte auf andere herabgesehen, seine eigene Aufgabe über die der Klan oder anderer Völker gestellt und war dafür über Leichen gegangen. Unschuldige Opfer hatte er dabei in Kauf genommen. Zu gut erinnerte er sich an den Jungen Renlasol und dessen Begleiter. Wie konnte er nun verurteilen, was er einst selbst gelebt und nur mühsam nach einereinschneidenden Veränderung abgelegt hatte? Musste Tomal einen ähnlich steinigen Weg zum
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