Kryson 04 - Das verlorene Volk
reagierten irritiert, wenn sich jemand nicht an die strengen Regeln hielt.
»Sprich und steh gerade!«, forderte Sapius den Diener unwirsch auf.
Der Diener richtete sich auf und blickte Sapius geradewegs in die Augen. Der Blickkontakt war eine weitere Regel, deren Missachtung als äußerst unhöflich galt. Das Wegsehen wurde als Schwäche ausgelegt. Währenddessen streckte er dem Magier, ohne den Blick abzuwenden, eine versiegelte Schriftrolle entgegen. Sapius nahm die Schriftrolle und erkannte sofort das Siegel des Regenten. Die Nachricht war an Tomal gerichtet.
»Drei Botschafter aus Tut-El-Baya trafen kurz hintereinander im Palast ein. Sie alle tragen eine Schriftrolle bei sich, die für die Augen des Fürsten bestimmt ist und dringlich zu sein scheint. Allerdings betonten die Gesandten, dass es sich um identische Botschaften handele. Es genüge daher, wenn wir den Inhalt einer Botschaft lesen. Leider ist der Fürst im Moment nicht ansprechbar. Wir wagen nicht, Tomal zu stören, Herr. Verzeiht daher meinen Überfall. Aber vielleicht könntet Ihr …«
»Schon gut«, murrte Sapius, »ich verstehe. Macht euch keine Gedanken, ich werde mich persönlich darum kümmern.«
»Dürft Ihr das Siegel des Regenten brechen, Meister?«, fragte der Diener zögerlich.
»Ja«, bestätigte Sapius, der davon ausging, dass Tomal keine Geheimnisse vor ihm hatte und ihn seine Vertrauensstellung dazu berechtigte.
Der Diener war mit der Antwort zufrieden, machte kehrt und schloss die Tür beim Hinausgehen hinter sich.
Alleine in seinen Gemächern zögerte Sapius zunächst, die Schriftrolle zu öffnen. Nachdem er sie jedoch eine Weile zwischen seinen Händen hin und her gewechselt hatte, siegte die Neugier und er brach das Siegel. Der Inhalt der Botschaft überraschte ihn. Unweigerlich legte er die Stirn in Falten und zog die Augenbrauen nach oben.
»Die Nachricht wird Tomal nicht gefallen« , dachte der Magier bei sich. »Dennoch … ich sollte keine Zeit verlieren, ihm die Zeilen des Regenten zu überbringen.«
Mit der geöffneten Schriftrolle in der Hand machte er sich eilends durch die rutschigen Flure des Eispalastes auf den Weg zu den Privatgemächern des Fürsten. Tomal hatte die ehemaligen Gemächer Corusals bezogen, nachdem er die Regierungsgeschäfte von Alvara übernommen hatte. Dies waren gewiss die besten und wohnlichsten Räumlichkeiten im ganzen Palast und sie waren für einen Fürsten angemessen. Sapius glitt mehr, als dass er über den blank polierten Boden mit den Wollpantoffeln lief. Anfangs waren ihm die Gänge über das Eis zuwider gewesen, war er doch ein ums andere Mal unsanft auf dem Hinterteil gelandet und hatte sich mehrfach schmerzhafte Prellungen und blaue Flecken zugezogen. Inzwischen jedoch hatte er trotz seines steifen Beines gelernt, wie es sich leise und schnell durch die Palastflure fortzubewegen galt. Die Wollpantoffeln hatten also nicht nur einen wärmendenNutzen, sondern dienten auch der Vollendung einer Bewegungstechnik auf Eis, die nur jemand erlernen konnte, der lange genug im Eispalast gelebt hatte. Es waren ausladende, weit nach außen gezogene, knapp über dem Boden vollführte Schritte mit einem leicht nach vorne gebeugten Oberkörper, die zu einer vernünftigen und gut kontrollierbaren Schrittfolge und der notwendigen Beschleunigung und Sicherheit führten. Seit sich der Magier diese Technik von einigen Bediensteten abgeschaut hatte, war er nicht mehr gestürzt.
Vor den Gemächern des Fürsten angelangt bremste er gekonnt und forderte die beiden vor der Tür Wache stehenden Eiskrieger auf, ihn einzulassen.
»Der Fürst wünscht keine Störung, Herr«, sagte eine der Wachen abweisend.
»Mich wird er empfangen«, antwortete Sapius in säuerlichem Tonfall, »ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.«
»Es tut uns leid, Meister Sapius«, lehnte die zweite Wache sein Ansinnen ab, »wir haben strikte Anweisung niemanden vorzulassen. Selbst Euch nicht.«
»Was bei allen Kojos treibt Tomal in seinen Gemächern?«, machte Sapius lautstark seinem Ärger Luft.
Die beiden Wachen sahen sich an, als ob sie sich miteinander absprechen müssten, bevor sie antworteten.
»Das wissen wir nicht, Herr«, antwortete der erste Eiskrieger trocken, »vielleicht wäre es besser, wenn Ihr es später noch einmal versucht. Die Anweisung gilt ohne Einschränkung für jeden Besucher. Selbst die Magierin Tallia, unser Anführer Baylhard und die Fürstenmutter Alvara sind davon nicht
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