Kryson 05 - Das Buch der Macht
gelingen, mach dir ein eigenes Bild von der Lage. Finde heraus, warum die Bewahrer uns gefangen halten, warum sie die Ordensschwestern nur noch benutzen und nicht mehr beschützen. Du musst wissen, womit du es zu tun hast, damit du dagegen vorgehen kannst. Das Herz und Gehirn des Kriegers setze erst ein, wenn du keinen anderen Weg mehr findest.«
»Warum soll ich die Steine nicht gleich verwenden?«
»Weil sie die Bewahrer zu sehr unter Druck setzen. Sie müssten fürchten, von dir vernichtet zu werden. Du würdest sie also zwingen, dir zu dienen. Es ist jedoch besser, wenn sie dir aus Überzeugung und aus freien Stücken folgen. Ich glaube nicht, dass es in Ulljans Geist wäre, wenn die Orna über die Bewahrer herrschen würden. Der Lesvaraq überließ uns die Gegenstände nur zu unserer eigenen Sicherheit, weil er den Bewahrern im Gegenzug die Stärke und Kampfkunst verlieh, sodass sie uns körperlich überlegen sind.«
Ayale hatte recht. Ein Besuch beim hohen Vater konnte Licht ins Dunkel bringen und Elischa wollte ihm ohnehin noch ihre Aufwartung machen. Das war sie ihm schuldig. Seitihrer Wahl zur heiligen Mutter hatte sie das Haus des hohen Vaters nicht aufgesucht und auch nicht mit Yilassa, der ersten Frau auf der Position des hohen Vaters, gesprochen. Es wurde Zeit, dass sich das änderte. Sie würde sich nicht bis zum Ende ihrer Tage in ihrer Kammer verkriechen können und darauf warten und hoffen, dass sich die Probleme von selbst lösten. Das taten sie in den seltensten Fällen.
Bereits am nächsten Tag nach ihrem Gespräch mit Ayale signalisierte der hohe Vater seine Bereitschaft, die heilige Mutter zu empfangen. Elischa war aufgeregt. Sie wusste nicht, was sie im Haus des hohen Vaters erwartete. Sie kannte die famose Kämpferin Yilassa schon sehr lange und hatte stets große Stücke auf sie gehalten. Aber die Zeiten und die Wesen änderten sich. Elischa fragte sich auf dem Weg in das benachbarte Ordenshaus, ob sich Yilassa stark verändert hatte. Sie selbst hatte sich verändert, das war ihr klar, und auch Madhrab war längst nicht mehr derselbe, der er einst war.
Elischa wusste von Madhrab, dass er seine einstige Kampfgefährtin sehr schätzte, obwohl sie wie sein Knappe Renlasol auch mit dem dunklen Mal Quadalkars gezeichnet und zu einer Bluttrinkerin gewandelt worden war. Sie hatte diese Bürde überwunden und war danach als erste Frau in der Geschichte der Bewahrer überhaupt zum hohen Vater ernannt worden. Bis zu ihrer Berufung war eine Frau als Overlord im Orden der Sonnenreiter undenkbar gewesen. Yilassa musste sich stark entwickelt haben, seit sie die Kriegerin zuletzt gesehen hatte. Sie mochte bei Elischas Bestrafung dabei gewesen sein und ihre Geißelung mitverfolgt haben. Das zählte für die heilige Mutter jedoch nicht als Begegnung. Sie hatten sich nicht von Angesicht zu Angesicht gesprochen.
Die heilige Mutter und der hohe Vater trafen sich zu einem gemeinsamen Spaziergang auf den Übungsplätzen vor dem Haus des hohen Vaters. Schon als kleines Mädchen hatte Elischaden Bewahrern durch die Mauern zwischen den Ordenshäusern gerne bei ihren Übungen zugesehen. Sie war fasziniert gewesen von den schnellen und kraftvollen Bewegungen, die sie während ihrer Ausbildung mit und ohne Waffen vollführten.
Der hohe Vater empfing die heilige Mutter mit einem freundlichen, warmen Lächeln und reichte ihr die Hand zur Begrüßung.
»Elischa, wie schön, Euch zu sehen«, sagte Yilassa, »es ist schon sehr viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Ich freue mich aufrichtig, dass Ihr zur heiligen Mutter gewählt wurdet. Der Orden der Orna hat eine kluge und starke Hand verdient. Eine sehr gute Wahl und kein Vergleich zu Eurer Vorgängerin.«
»Ich freue mich auch, dass Ihr mich empfangt«, antwortete Elischa, »Hegoria war schwer erkrankt. Dennoch führte sie den Orden sehr gut.«
»Nicht so gut, wie Ihr ihn führen werdet. Auf dieser Aussage bestehe ich«, lächelte Yilassa. »Lasst uns ein paar Schritte gehen. Wir können uns während des Spaziergangs unterhalten. Da sind wir ungestört.«
Elischa war froh, dass sie freundlich empfangen wurde. Dennoch bekam sie den Eindruck, dass mit dem hohen Vater etwas nicht stimmte. Yilassas Augen waren stark gerötet und blutunterlaufen. Unter den Augen befanden sich dunkle Ringe und ihre Haut war von einer ungesunden Blässe. Das einst schöne goldblonde Haar hing ihr in ungepflegten langen, grauen Strähnen bis über die
Weitere Kostenlose Bücher