Kryson 06 - Tag und Nacht
sehr nahe. Ihre Stimme nahm einen beschwörenden Tonfall an, »Tomal hat die Artefakte von mir verlangt. Er ist der Lesvaraq. Ich habe sie ihm verweigert und wäre dabei beinahe durch die Hände meines eigenen Sohnes ums Leben gekommen. Warum sollte ich sie Euch überlassen? Wollt Ihr mir Gewalt antun, um die Artefakte zu bekommen?«
»Wenn Ihr nicht einwilligt … ja … und nein. Aber ich meine es gut mit Euch«, antwortete Sapius, »ich will Euer Leben und das der Orna retten.«
»Ihr seid ein wahrer Held, Sapius«, spottete Elischa, »Euch ist nicht bewusst, was das Ende der Orden tatsächlich für die Orna und die Bewahrer bedeutet. Das sehe ich Euch an. Ihr denkt, was kann so schlimm daran sein, die Artefakte an die Maya zurückzugeben. Ihr habt keine Ahnung!«
»Nein?« Sapius rieb sich verwundert die Augen.
»Nein. Wenn ich Euch die Gegenstände übergebe, verlieren wir Orna die Macht über die Bewahrer und Sonnenreiter«, erklärte Elischa. »Das Band der Orna und der Bewahrer würde für immer gelöst. Tag und Nacht verschieben sich genau in jenem Augenblick, in dem ich Euch das steinerne Herz und das Gehirn übergebe. Das Gleichgewicht gerät in Gefahr. Statt uns zu beschützen und uns bei der Erfüllung unserer Pflichten treu zur Seite zu stehen, werden die Bewahrer fühlen, sobald das Band zerschnitten wird. Sie werden kommen und die Orna erschlagen. Keine Ordensschwester wird am Leben gelassen. Es gibt ein Gemetzel. Wohin wir auch gehen, uns verstecken oder fliehen. Sie werden uns jagen und finden, so lange, bis sie auch die Letzte von uns aufgespürt haben. Das Ende des Ordens bedeutet den Tod der Orna. Es gibt keine andere Lösung. Ihr werdet sie nicht aufhalten können. Haben die Bewahrer ihr Werk vollbracht, töten sie sich schließlich selbst. Das ist das Schicksal der Orden. Ist es das, was Ihr von mir verlangt?«
»Ich …«, Sapius war zutiefst bestürzt, »das … das wusste ich nicht.«
»Jetzt wisst Ihr es«, sagte Elischa, »wollt Ihr Euren Wunsch noch einmal äußern?«
Sapius konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war verzweifelt. Eine solche Entwicklung hatte er nicht erwartet. Er war mit der festen Überzeugung in das Ordenshaus gekommen, die Artefakte zu erhalten und Elischa zur Flucht bewegen zu können. Jetzt schien sein Unterfangen aussichtslos. Es musste eine andere Lösung geben. Einen Ausweg, bei dem Elischa und die Orna am Leben blieben. Alles andere würde er sich niemals verzeihen. Er war sich jedoch nicht sicher, ob sie ihn nur auf die Probe stellen oder ihm ein schlechtes Gewissen machen wollte. Sprach Elischa die Wahrheit? Hätte Ulljan das Ende der Orden auf solch schreckliche und endgültige Weise gewollt? Sapius entschied sich, ihr zu glauben. Weshalb sollte er an den Worten der heiligen Mutter zweifeln?
»Euer Tod ist das Letzte, was ich wollte.« Sapius hatte Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. »Kommt mir, Elischa. Ihr behaltet die Artefakte in Eurer Obhut, nehmt sie mit auf die Reise und verwahrt sie so lange, bis wir sie schließlich brauchen.«
»Das ändert nichts, Sapius«, erwiderte Elischa gefasst, »am Ende verlangt Ihr das Herz und das Gehirn des Kriegers doch. Käme ich mit Euch, würde das Schicksal der Orden nur verzögert. Das Ergebnis wäre dasselbe. Ayales Geist riet mir allerdings, Euer Verlangen zu erfüllen. Egal was es auch sei.«
»Ayales Geist?« Sapius runzelte verblüfft die Stirn.
»Ihr habt richtig gehört. Ihr Geist suchte mich auf und sie warnte mich, so wie Ihr mich vor dem Ende gewarnt habt. Gerade so, als ob Ihr Euch untereinander abgesprochen hättet. Ayale starb erst heute Morgen einen gewaltsamen Tod. Sie war meine Vertraute, meine Freundin. Die beste Freundin, die ich im Orden hatte. Ich trauere um Ayale. Aber sie war auch eine Saijkalsan-Hexe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihrem Rat in dieser Frage trauen darf. Sie hatte eine gänzlich andere Auffassung als ich über die Bedeutung, Auflösung und das Ende des Ordens.«
»Aber … woher wusste sie, dass ich mich auf dem Weg zu Euch befand und was ich von Euch möchte?«
»Ich weiß nicht, ob sie wusste, was Ihr verlangt. Vielleicht sehen die Schatten mehr, als wir uns vorstellen können. Womöglich besteht noch immer eine Verbindung zwischen den Saijkalsan und Euch. Auch wenn Ihr Euch schon vor längerer Zeit von den magischen Brüdern losgesagt habt, es gab eine Zeit, in der Ihr den Saijkalrae die Treue geschworen habt.«
»Das ist richtig«, nickte Sapius,
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