Kryson 06 - Tag und Nacht
wenn es bislang nur sehr vage wahrnehmbar war. Wie eine düstere Vorahnung, die aber noch nicht greifbar genug war, um sie mit anderen offen zu teilen.
Der Kampf um die Vorherrschaft auf Ell würde schon bald in eine entscheidende Phase treten. Spätestens zu jener Horas, in der die Streiter den anderen Teil des Buches finden sollten und begannen, sich um den Besitz zu streiten. Auch die magischen Brüder würden davon erfahren und Ansprüche auf das Buch und die damit verbundene Macht stellen. Sie hatten sich bislang zurückgehalten, aber Sapius war sich sicher, dass sich weder Saijkal noch Saijrae weiter in den heiligen Hallen versteckten, wenn es um den Besitz des Buches ging. Sie hatten es auf ihn und das Buch abgesehen.
Sapius träumte immer öfter, dass er ihren Atem in seinem Nacken spürte und sie ihm mit jedem Tag näher kamen. Wie lange ließen sie ihn nun schon jagen, seit er die Brüder verlassen hatte? Einmal hätten ihn die Leibwächter beinahe geschnappt, aber er war ihnen mit der Hilfe der Naiki entkommen. Seither waren sie ihm nicht mehr näher gekommen. Aber Sapius wusste, es wäre ein Fehler, sich deswegen in Sicherheit zu wiegen.
Sapius hinkte vor dem Eingangstor auf und ab. Seinen Stab trug er in einer Schleife an der Seite. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. Hin und wieder hob er den Kopf und blickte an der Mauer nach oben, in der Erwartung, das Gesicht der Ordensschwester auftauchen zu sehen, die ihm den sofortigen Einlass verweigert und ihn zum Warten aufgefordert hatte.
Die Ordensschwester ließ sich Zeit. Wertvolle Zeit, die er nicht hatte. Endlich tauchte sie wieder auf und gab Anweisung, das Tor für den Magier zu öffnen. Haffak Gas Vadar musste vor den Mauern auf den Magier warten. Weder die Orna noch die Sonnenreiter schätzten die Anwesenheit eines Drachen innerhalb der Mauern der Ordenshäuser.
Die Ordensschwester empfing den Magier, kurz nachdem er den Torbogen durchschritten hatte und sich das Tor hinter ihm krachend wieder schloss.
»Willkommen in den Ordenshäusern der Sonnenreiter und Bewahrer«, sagte die Ordensschwester in höflichem, aber auch sehr förmlichem Tonfall. »Es tut mir leid, dass Ihr warten musstet. Aber die heilige Mutter ist im Augenblick sehr beschäftigt. Ich werde Euch direkt in das Haus der heiligen Mutter geleiten, wenn es Euch recht ist. Dort könnt Ihr es Euch bequem machen und auf sie warten. Sie bittet Euch noch um etwas Geduld.«
»Danke, das ist sehr freundlich«, log Sapius aus Höflichkeit.
Als er die inneren Mauern hinter sich ließ, stellte Sapius fest, dass die Orna eine Zeremonie vorbereiteten.
»Wird es bald ein Fest geben?«, fragte Sapius hinterlistig lächelnd. »Ich hoffe nicht, dass Ihr Euch die Mühe nur wegen meines Besuches macht.«
Die Ordensschwester sah ihn verständnislos und böse an. Offenbar hatte er sie mit seiner Bemerkung unbeabsichtigt verletzt.
»Macht Euch nur keine Sorgen deswegen«, erwiderte sie mit spitzer Zunge, »wir bereiten eine Bestattung vor. Nicht für Euch, hoffe ich doch. Es sei denn, Ihr wollt als Ehrengast
–
zu dessen Ehren wir diese Bestattung abhalten – daran teilnehmen. Eine Ordensschwester hat uns überraschend verlassen.«
»Oh … nein, das habe ich nicht gewusst«, fuchtelte Sapius abwehrend mit den Händen. »Ich will nicht bestattet werden. Ich lebe noch.«
»Was sich in diesen Zeiten rasch ändern kann«, sagte die Ordensschwester schnippisch.
Sie warf ihm einen bedrohlichen Seitenblick zu. Sapius war überrascht. Die Orna waren meist schlagfertig. So feindselig und drohend hatte er sie jedoch noch nicht erlebt. Sie mussten in letzter Zeit einiges durchgemacht haben.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Sapius, »ich wollte Euch mit meiner Bemerkung nicht verletzen. Sie war unbedacht und dumm. Bitte versteht mich nicht falsch. Ich bin gewiss kein Mann, für den für gewöhnlich Feste ausgerichtet werden oder der dies aus Gastfreundschaft erwarten würde. Ich bin nicht so eingebildet, wie es vorhin vielleicht für Eure Ohren klang.«
»Und wir sind keine Mörder«, antwortete die Ordensschwester kalt lächelnd, »Ihr könnt Euch also unserer Obhut und Fürsorge bedenkenlos anvertrauen. Wir werden Euch nicht bestatten und wenn doch, dann gewiss nicht mit einer solch aufwendigen Zeremonie. Wir würden Euren vergifteten Kadaver heimlich und verborgen im Schutz der Dunkelheit in unseren Gärten oder in der Nähe der Ställe verscharren. Niemand würde je davon
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