Kryson 06 - Tag und Nacht
das Holz?«
»Ich habe davon gehört. Es muss selten und sehr alt sein. Die Bäume wachsen nicht mehr auf Ell. Aber ich habe noch nie einen mit eigenen Augen gesehen. Wisst Ihr, was das Holz vermag?«
»Ich habe eine Ahnung, aber ehrlich gesagt, kenne ich nur einen Bruchteil der Möglichkeiten.«
»Das ist schade«, meinte Sapius, »dann könnt Ihr ihn nicht richtig einsetzen. Woher habt Ihr den Stab?«
»Ayale schenkte ihn mir, als ich in den Orden zurückkam. Sie erzählte mir, sie habe ihn einst von Tarratar bekommen, der ihn ihr von einer seiner Reisen mitbrachte.«
»Tarratar? Der Narr?«
»Genau.«
»Und was hatte Tarratar mit der Orna zu schaffen?« Sapius war hellhörig geworden.
»Ach … das ist ein Frauengeheimnis«, seufzte Elischa, »eine lange Geschichte, über die Ayale nicht gerne sprach. Ich weiß es nicht genau und verstehe es auch nicht. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Wie ist die Lage?«
Sapius nickte in Richtung der Gestalt, die sich dem Eingangstor näherte. Die Rachuren formierten sich zum Sturm auf die Mauern.
»Ich nehme an, dass Nalkaar mit Euch reden will«, sagte Sapius.
»Ich habe ihm nichts zu sagen«, meinte Elischa.
»Dann wird das eine kurze Angelegenheit, bis die Todsänger mit dem Gesang beginnen«, meinte Sapius. »Ich schlage vor, Ihr hört Euch an, was er zu sagen hat.«
»Wollt Ihr das nicht für mich übernehmen?«, bat Elischa den Magier.
»Ihr seid die heilige Mutter und steht den Ordenshäusern vor. Aber ich will Euch gerne unterstützen, denn auch ich hätte dem Todsänger etwas zu sagen, bevor ich die Stille anrufe und über die Gegend lege.«
»Das wollte ich Euch ohnehin noch fragen, Sapius. Wie lange wird die Stille anhalten und wie weit wird sie reichen?«
»Ihr erwartet eine ehrliche Antwort?«
»Ja, natürlich.«
»Ich weiß es nicht«, seufzte Sapius schulterzuckend, »das liegt bei den Kojos. Die Stille ist wie ein Fluch. Sie könnte ewig dauern, wird sie nicht aufgehoben. Sie reicht so weit, wie ich blicken kann. In die Höhe und in die Weite. Ich kann die Stille zwar heraufbeschwören, weiß aber nicht, wie ich sie wieder aufheben soll.«
»Oh …«, Elischa sah den Magier zweifelnd an, »hättet Ihr das nicht gleich sagen können? Haltet Ihr Euren Versuch immer noch für eine gute Idee, wenn Ihr nicht wisst, wie Ihr den Fluch wieder beseitigen könnt? Ich halte Euren Vorschlag unter diesen Umständen für gewagt.«
»Habt Ihr vielleicht eine bessere Idee?«, entgegnete Sapius genervt.
»Nein!«, antwortete Elischa schroff.
»Dann lasst es mich versuchen. Es kann unsere Rettung sein.«
»Eure!«, berichtigte Elischa den Magier in einem gleichgültigen Tonfall. »Ich halte Euch nicht auf. Es spielt keine Rolle mehr, welches Unheil Ihr noch heraufbeschwört und wie groß der Schaden am Ende sein wird. Das Schicksal liegt offenbar in Euren Händen. Ihr müsst damit leben. Ich nicht mehr lange.«
Der Gestalt im Kapuzenmantel blieb stehen. Sie war nahe genug an die Mauern herangekommen und erhob ihre Stimme.
»Ich bin Nalkaar der Todsänger.« Er war klar und deutlich zu verstehen. »Meine Aufgabe ist es, im Namen der Rachuren die Klanlande zu erobern. Es gibt kein Entkommen. Öffnet die Tore und ergebt euch!«
Elischa trat näher an die Mauer heran und blickte zu dem Todsänger hinab. Sapius folgte jedem ihrer Schritte mit den Augen.
»Wir kennen Euch, Nalkaar«, rief Elischa, »wir sind uns schon einmal in der Schlacht am Rayhin begegnet. Damals musstet Ihr den Rückzug antreten. Ich bin die heilige Mutter des Ordens der Orna und spreche im Namen beider Orden. Was wollt Ihr? Wir bewahren das Erbe Ulljans und das Gleichgewicht. Euer Ansinnen kann ich nicht gutheißen. Ihr gefährdet das Gleichgewicht zwischen Tag und Nacht.«
»Ich bin nicht darauf aus, einen Berg von Kadavern auf meinem Eroberungsfeldzug zu hinterlassen«, antwortete Nalkaar, »unsere Ziele haben sich geändert. Während wir damals die Auslöschung der Nno-bei-Klan verfolgten, wollen wir uns heute als gnädig erweisen. Die Nno-bei-Klan werden überleben, wenn sie uns als Sklaven dienen. Das biete ich auch den Orden an. Öffnet die Tore und lasst uns ein. Einige von den Bewahrern und Orna werden sich uns aus freien Stücken anschließen und im Heer gewiss treue Dienste leisten. Ich verspreche eine gute Behandlung. Andere, die ich persönlich auswählen werde, erhalten die Gelegenheit, sich zu Todsängern zu wandeln und in die Kunst des Gesanges eingewiesen zu werden.
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