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Kryson 06 - Tag und Nacht

Kryson 06 - Tag und Nacht

Titel: Kryson 06 - Tag und Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Rümmelein
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Er hatte tatsächlich angenommen, sie würden das Kind
Elischa
rufen. Er hatte sich geirrt.
    Die Zeit im Land der Tränen verging und Madhrab vergaß. Nicht alles. Doch vieles aus der Vergangenheit verschwamm vor seinem inneren Auge. Bilder, Namen und Gesichter verschwanden im Nichts. Ereignisse und Erlebnisse, die ihn einst geprägt und verfolgt hatten, fühlten sich an, als wären sie nie geschehen. Die Gespräche mit dem Hüter halfen Madhrab zu vergessen. Der Geist des Baumes hörte ihm zu, erteilte ihm Auskünfte, Rat und Trost, wann immer er ihn brauchte.
    Manchmal fragte er den Hüter, wann Elischa ins Land der Tränen zu ihm zurückkäme. Außer einem nachdenklichen Lächeln erhielt er keine Antwort darauf, durfte aber hin und wieder einen Blick in das Astloch des Baumes werfen, um seine Liebe für eine Weile zu beobachten. Madhrab wusste nicht, warum ihm der Geist diesen Wunsch gewährte. Sein Verlangen, Elischa wieder in seiner Nähe zu spüren, wurde dadurch nicht geringer. Madhrab war erstaunt, wie schnell Tyleen zu einer jungen Frau heranwuchs und lernte. Sie sah seiner Elischa so ähnlich. Ihr Anblick schmerzte ihn.
    Doch viel schlimmer wurde es, als er mit ansehen musste, wie sie von anderen Männern umworben wurde und an diesem Spiel offensichtlich Gefallen fand. Madhrab war eifersüchtig auf jeden Mann, der sich ihr auch nur näherte. Aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Dies war ihr Leben und er war gefangen im Land der Tränen.
    Würde er sie jemals vergessen können? Solange er an ihr festhielt, konnte er nicht geheilt werden und durfte nicht nach Kryson gehen, um ein neues Leben zu beginnen und Elischa zu suchen. Das war Madhrab bewusst, doch was sollte er machen? Sie war ein Teil seiner selbst, den er nicht bereit war aufzugeben.
    »Lass sie los«, riet ihm der Geist des Baumes, »du tust weder dir noch ihr einen Gefallen damit, wenn du sie nicht ihr Leben leben lässt. Solange du sie beobachtest, wird sie nicht frei sein. Sie weiß nichts davon und wird es auch nie erfahren, aber das Gefühl bleibt. Deine Eifersucht wird deine Seele zerfressen. Warum tust du dir das an? Du magst mit ihr verbunden sein, aber sie gehört dir nicht. Sie ist frei und lebt jetzt ein Leben ohne dich.«
    »Die Seele ist mehr als das Leben«, erwiderte Madhrab, »das hast du selbst in anderen Worten gesagt. Sobald sie stirbt, wird sie in das Land der Tränen zurückkehren und meine Seele wiedererkennen. Ist es nicht so?«
    »Vielleicht«, antwortete der Geist. »Es wäre auch möglich, dass sie ihr Herz in Liebe einer anderen Seele schenkt und sich mit ihr verbindet. Das können wir nicht verhindern. Gib ihr die Freiheit, die sie braucht, um glücklich zu werden. Das hat sie verdient.«
    »Du verlangst von mir, dass ich unsere Liebe opfere? Für ein Leben auf Kryson?«
    »Das Leben ist alles, was der Baum den Seelen schenken kann. Das Leben ist das Gleichgewicht. Verstehst du das?«
    »Nein«, schüttelte Madhrab den Kopf, »es muss mehr geben als nur das.«
    »Was kann es Höheres und Wertvolleres geben als das Leben selbst?« Der Geist sah Madhrab erstaunt an. »Glaubst du wirklich, dass das Land der Tränen oder das Reich der Schatten die Erlösung ist?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Madhrab, »ich verstehe den Sinn dahinter nicht.«
    »Musst du denn wirklich alles verstehen, um zu leben? Es gibt Dinge, die bleiben besser im Verborgenen.«
    Der Geist des Baumes sprach in Rätseln. Das war nicht das erste Mal, dass Madhrab den Gedanken des Hüters nicht folgen konnte.
    Madhrab legte sich unter den Baum und beobachtete das Rauschen und Zittern der Blätter an den knorrigen Ästen des Lebensbaumes. Farghlafat lullte ihn mit seinem brummenden Gesang ein.
    Madhrabs Seele schlummerte friedlich unter dem Schutz des Baumes und beinahe hätte er seine Liebe vergessen. Ein eigenartiges Gefühl überkam Madhrab und riss ihn aus dem Schlaf. Etwas stimmte nicht im Land der Tränen. Die Geborgenheit war mit einem Schlag verflogen. Madhrab hatte plötzlich schreckliche Angst.
    Er starrte nach oben und entdeckte einige verdorrte Blätter über ihm. Der Baum stöhnte und ächzte. Farghlafat wiegte die mächtigen Äste hin und her. Aber es gab keinen Wind, der ihm dabei half. Es kam Madhrab so vor, als wolle sich der Baum gegen einen Angriff wehren oder er wand sich vor Schmerzen.
    Madhrab sprang erschrocken auf und rief nach dem Hüter.
    »Was ist los?«, schrie Madhrab, dessen Stimme vom Stöhnen des Baumes beinahe

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