Kryson 06 - Tag und Nacht
gehen«, beharrte Elischa.
»Du hast keine Wahl«, seufzte der Hüter.
»Dann soll er mitkommen. Ich bestehe darauf«, verlangte Elischa.
»Das geht nicht«, antwortete der Geist des Baumes, »er ist noch lange nicht bereit für ein Leben auf Kryson.«
»Soll das bedeuten, dass wir uns womöglich nie wieder in einem Leben begegnen?«, fragte Elischa.
»Wer weiß?« Der Geist des Baumes zuckte mit den Schultern. »Niemand kann vorhersehen, ob und wie viele Gelegenheiten sich ergeben. Die Seele ist unsterblich und sie kehrt immer wieder an ihren Ursprung zurück. Es mag Überschneidungen und Verbindungen mit anderen Seelen geben, aber sie müssen sich nicht unbedingt in einem Leben treffen.«
»Dann wird dieses Leben unglücklich werden«, meinte Elischa.
»War dies eine Frage oder eine Feststellung?«, wollte der Geist des Baumes wissen. »Das muss es nicht. Du kannst andere Seelen treffen, dich verlieben und dich mit ihnen verbinden. Nichts hindert dich daran. Ob du glücklich wirst und ein erfülltes Leben führst, entscheidest nur du alleine und … nun ja … die Umstände, in denen du lebst. Du solltest es allerdings vermeiden, die Trauer über den Verlust der verbundenen Seele mit in dein neues Leben zu nehmen. Das Gefühl könnte nachwirken und dein ganzes Leben trüben. Am besten, du vergisst ihn!«
»Das kann ich nicht!«, empörte sich Elischa.
»Doch. Du kannst und du wirst«, meinte der Hüter.
Madhrab stand daneben und hatte das Gespräch mit offenem Mund mit angehört. Was der Hüter verlangte, war nicht richtig. Alles in Madhrab sträubte sich gegen die Worte des Geistes. Er würde Elischa verlieren, wenn er sie jetzt gehen ließe. Vielleicht sogar für immer. Das Gefühl, sie zu verlieren, wurde stärker und ließ ihn nicht mehr los. Panik überkam ihn. Er erinnerte sich plötzlich an vieles aus seinem letzten Leben.
»Ich lasse sie nicht gehen!«, sagte Madhrab. »Entweder sie bleibt hier bei mir im Land der Tränen oder ich gehe mit ihr nach Kryson. Vereint für immer!«
Der Geist des Baumes drehte sich zu Madhrab und sah ihm ernst und zugleich traurig in die Augen.
»Ich kann dich nicht gehen lassen. Noch nicht. Du hast noch nicht alles vergessen. Es wäre gefährlich, wenn du zu früh, beladen mit deinen Erinnerungen, ein neues Leben beginnst. Ich weiß nicht, welche Folgen für das Gleichgewicht das hätte. Die Gefahr wird Farghlafat nicht eingehen. Aber selbst wenn ich dich mit ihr gehen ließe, hättest du keine Gewissheit, sie in diesem Leben zu treffen.«
»Ich würde sie suchen und finden, dessen bin ich mir sicher.«
»Zuzutrauen wäre es dir, in der Tat«, meinte der Geist, »aber nur, weil du dich an sie erinnerst. Und genau deshalb werde ich dich nicht mit ihr gehen lassen.«
»Das ist nicht gerecht. Wir mussten so viel erleiden, bis wir uns wiedergefunden haben«, beschwerte sich Madhrab, »und jetzt schickst du sie wieder weg.«
»Woher weißt du das?«, lächelte der Geist wissend. »Du hast nichts vergessen, nicht wahr? Wann kam die Erinnerung zurück? Womöglich erinnerst du dich wieder an eure Namen. Sag, habe ich recht?«
»Ja, du hast recht«, gab Madhrab zu, »ich erinnere mich, dass ich ein Krieger war.«
»Ein großer Krieger, würde ich meinen«, ergänzte der Geist, »ein unglaublich befähigter Krieger, um bei der Wahrheit zu bleiben. Ein Krieger mit einem bekannten wie gefürchteten Namen, der die Welt hätte verändern können. Aber er versagte und musste leiden.«
»Ja, ja … all das … warum betonst du meine Fähigkeiten und meine Niederlagen so sehr?«, wunderte sich Madhrab.
»Weil du sie endlich vergessen sollst. Im Land der Tränen sind sie bedeutungslos. Hier bist du bloß eine Seele, die auf ein neues Leben wartet.«
»Dann schenke mir ein neues Leben an ihrer Seite«, bat Madhrab.
»Nein«, lehnte der Hüter kopfschüttelnd ab, »du wirst hier in der Nähe des Baumes bleiben und warten. In einem neuen Leben wärst du wieder Madhrab, weil du noch nicht vergessen hast. Anfangs dachte ich, du wärst in der Lage zu vergessen. Aber dann kamen die Bilder und Gedanken Stück für Stück zurück. Ich habe es dir angesehen. Die Vergangenheit würde dich mit aller Wucht wieder einholen. Das kann ich nicht gestatten. Ihr müsst Euch trennen und Abschied voneinander nehmen. Endgültig.«
»Nimm eine andere Seele und lass sie hierbleiben!«, forderte Madhrab.
»Nein, sie ist an der Reihe. Es gibt kein Zurück!«, blieb der Hüter bei seiner
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