Kryson 06 - Tag und Nacht
einem grellen Licht und schrie aus Leibeskräften. Es war der Schrei eines Neugeborenen. Der Schrei eines Kriegers.
Jemand hielt ihn an den Beinen nach unten und hatte ihm einen kräftigen Klaps auf den Hintern gegeben.
»Elischa«
, dachte Madhrab,
»ich bin wieder da. Warte auf mich. Ich suche dich und werde dich finden, wo immer du auch sein magst. Wir werden wieder vereint sein.«
Madhrab freute sich auf sein neues Leben, auch wenn die Aufgabe noch so schwer sein mochte. Er würde Geduld brauchen. Seine Mutter wog ihn sanft in den Armen und sang ihm ein wunderschönes Lied vor. Madhrab fühlte sich wohl und schlief ein.
Es war eine anstrengende Geburt.
Im Auge des Wächters
I nmitten eines gigantischen Netzes hauste der vierte Wächter des Buches. Er teilte sich das Netz mit einer Riesenspinne namens Peeva und vielen anderen Wesen. In einem großen, aus seidenen Fäden gesponnenen Kokon, hatte er sich zusammengerollt und wartete. Lauerte regungslos. Auf was er lauerte, wusste nur der Wächter selbst. Der vierte Wächter war ein uraltes Wesen, das in seiner einzigartigen Gestalt zwar einfach zu beschreiben aber nur schwer zu begreifen war. Er gehörte neben der Mutter aller Drachen und Tarratar zu den ältesten Geschöpfen Krysons. Sein Name lautete
Grenwin
und er war einer der letzten seiner Art. Aber was genau war der vierte Wächter? Ein monströser Wurm, eine Raupe, eine Spinne, ein Klan oder eine Mischung aus allen vier? Seinem Äußeren nach war er nichts weiter als ein fleischiges, hautfarbenes Wesen mit einem übergroßen, kahlen Kopf und acht Tentakeln, die mit zahlreichen Saugnäpfen und Drüsen besetzt waren und Hände zum Greifen aufwiesen. Grenwin war abstoßend, furchterregend und abgrundtief hässlich. Doch jeder, der die Höhle betrat, konnte die ungeheure Macht spüren, die von ihm ausging.
Der Körper ähnelte dem einer fetten Raupe mit einer Vielzahl dicht aneinandergereihter Einzelsegmente und war am Hinterleib mit Spinndrüsen ausgestattet, aus denen noch dicke, klebrige Fäden hingen. Was würde aus ihm werden, sollte er sich eines Tages verpuppen? Ein riesiger Schmetterling, eine Spinne oder gar ein Drache? Tausend dunkle Augen waren vorne, an den Seiten und hinten über seinen Körper verteilt. Sie schimmerten im fahlen Licht der Höhle gelb, gefährlich und aufmerksam. Der vierte Wächter sah vieles, was sich auf Kryson ereignete. Sein Wissen war groß. Größer als das der meisten Wesen.
Grenwin wartete auf die sieben Streiter, die zu ihrer letzten Prüfung aufgebrochen waren. Er wusste, sie würden bald kommen, und beobachtete sie. Jeden ihrer Schritte verfolgte er genau. Grenwin wunderte sich über so manchen Streiter und schüttelte sich vor Lachen über ihre Ungeschicklichkeiten oder vor Abscheu über eine begangene Grausamkeit. Die sieben Streiter befanden sich mitten im Auge des Wächters.
*
Der Ruf der Streiter hatte die Gruppe um Tomal erreicht, als sie in der Nähe des Flussufers des Rayhin unter einem alten Baum lagerten, wo sie die Nacht verbringen wollten. Tomal, Malidor und Kallya hatten sich gemeinsam auf den Weg nach Tut-El-Baya gemacht. Der Lesvaraq hatte noch eine Rechnung mit den Praistern offen, die seinen Vater Corusal getötet hatten. Aber im Grunde seines Herzens ging es Tomal nicht darum, Rache für den Tod des Fürsten zu üben. Corusal war ihm gleichgültig, so wie ihm auch die Fürstin Alvara, seine leibliche Mutter Elischa und Madhrab egal waren. Was kümmerte einen Lesvaraq ihr Schicksal? In seiner Vorstellung waren sie nicht wichtig, ihr Leben ohne jede Bedeutung. Der Einzige, der ihm wirklich – mit Ausnahme der Königin der Nno-bei-Maya, die er begehrte, vielleicht sogar liebte und zugleich hasste – etwas bedeutet hatte, war Sapius. Der Magier hatte ihn aufgezogen und ihm viele Dinge beigebracht. Er hatte ihn gelehrt die Magie zu kontrollieren, bis er ihm nichts mehr beibringen konnte und der Lesvaraq ihm überlegen wurde. Sapius’ Wissen und Können war auch Tomals Wissen, nur dass er als Lesvaraq mächtiger war und inzwischen mehr konnte und wusste als sein Lehrer.
Aber ausgerechnet Sapius hatte ihn verlassen. Tomal fühlte sich von seinem einstigen Magier verraten. Er hatte ihm nie verziehen, dass sich Sapius befreit und den Zyklus des Lesvaraq beendet hatte. Wie hatte er ihm das antun können? Er gab dem Magier die Schuld an seinem geistigen Verfall und dem Ende der Dunkelheit in sich selbst, die ihn langsam, aber sicher in den Wahnsinn
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