Kryson 06 - Tag und Nacht
Entscheidung.
»Ich werde um sie kämpfen!«
Der Hüter beäugte Madhrab argwöhnisch mit gerunzelter Stirn.
»Gegen wen willst du antreten?«
»Gegen dich und den verdammten Baum des Lebens. Ich werde ihn fällen, wenn es sein muss!«, schrie Madhrab voller Zorn.
»Mäßige dich!«, verlangte der Hüter. »Du machst dich lächerlich. Ich kann dich jederzeit in das Reich der Schatten zurückschicken, solltest du diesen Tod einem Aufenthalt im Land der Tränen vorziehen.«
»Nein … ich …«, stammelte Madhrab, dem in seiner Verzweiflung nichts mehr einfiel.
Der Geist des Baumes drehte sich wieder zu Elischa und legte ihr seine Hand auf die Stirn.
»Nun geh und beginne ein neues Leben«, sagte der Hüter.
Elischa schloss die Augen.
»Nein … Elischa … nicht … bleib bei mir!«, rief Madhrab.
»Elischa? Wer ist Elischa?«, flüsterte Elischa, während sie langsam verblasste.
Elischas Geist verschwand vor den Augen Madhrabs. Madhrab sank auf die Knie und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Die Trauer über das Verschwinden seiner Liebe überwältigte ihn. Er zitterte und weinte hemmungslos. Madhrab fühlte die tröstende Hand des Hüters auf seiner Schulter, der sich neben ihn gekniet hatte und leise zu ihm sprach.
»Komm mit mir zum Baum des Lebens, ich zeige dir, wo sie hingegangen ist«, sagte der Hüter.
Madhrab stand auf, ohne seine Beine bewusst zu steuern. Abwesend, in seiner Verzweiflung versunken, folgte er dem Geist zum Baum. Der Hüter deutete auf ein hohles Astloch, das sich ein kleines Stück über seinem Kopf befand.
»Sieh hinein, dann kannst du sie sehen.«
Madhrab stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte in das Astloch. Er sah eine junge Frau, die in den Wehen lag. Sie stöhnte und schrie vor Schmerzen. Andere Frauen waren bei ihr, wischten ihr den Schweiß von der Stirn, stützten ihren Rücken und hielten sie an den Armen fest, während sie presste und den Atem in kurzen Stößen aus ihren Lungen pustete. Sie biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten.
Eine ältere Frau hielt der Gebärenden die Beine auseinander und kontrollierte den Fortschritt der Geburt. Ein kleiner Kopf mit pechschwarzen Haaren war bereits im Ansatz zu sehen.
»Nur weiter so, nicht aufgeben, du machst das sehr, sehr gut … du bist stark … bald hast du es geschafft«, sagte die Frau mit beruhigender Stimme. »Gönn dir eine kurze Pause und warte bis zur nächsten Wehe. Dann wieder pressen und noch einmal Kraft schöpfen und ein letztes Mal, dann ist es da.«
Die Stimme der Frau klang gedämpft und hohl, als käme sie von weit her. Madhrab sah sich neugierig in der Hütte um. Es war eine schäbige Hütte, in der ein gedämpftes, flackerndes Kerzenlicht sich bewegende Schatten der Frauen an die Wände warf. Außer einem Bett, einem Schrank und einem Tisch mit einer Schüssel dampfenden Wassers sowie einigen frischen und blutigen Tüchern befand sich nichts weiter Bemerkenswertes in der Stube.
Madhrab konnte sich von dem Anblick der gebärenden Frau nicht lösen. Trotz ihres schmerzverzerrten Gesichts und der schweißnassen Haare sah sie wunderschön aus.
»Wer ist sie?«, fragte Madhrab.
»Eine werdende Mutter, die in diesem Moment ein Kind nach Kryson bringt«, antwortete der Geist.
»Wird das Kind Elischas Seele bekommen?«
»Ja, so ist es«, nickte der Hüter.
»Was wird aus ihr werden?«
»Wer weiß? Ihre Mutter ist eine Hexe. Sie lebt auf Fee und gehört zu einem größeren Stamm, der wiederum zu den Völkern des Lichts zählt. Eines Tages, sobald sie erwachsen ist und genug gelernt hat, wird Elischa vielleicht in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und ebenfalls eine Hexe werden. Sie hat die besten Voraussetzungen dazu. Sie kann sehr lange leben. Aber sie weiß nichts von Elischa und wird sich auch nicht erinnern. Sie wird anders sein als die Frau, mit deren Seele du dich verbunden hast. Vergiss sie! Wir wollen sie nicht länger stören.«
Madhrab beobachtete, wie das Kind auf die Welt kam und seinen ersten Atemzug tat, dem ein ausgiebiges und lautes Geschrei folgte.
»Ein Mädchen!«, rief die alte Frau freudestrahlend.
Sie legte das Mädchen in die Arme der erschöpften Mutter, die das Neugeborene glücklich anlächelte und mit den Fingern behutsam über das Gesicht strich. Das Mädchen fühlte sich offensichtlich geborgen und beruhigte sich.
»Ich werde dich Tyleen nennen«, hauchte die Mutter der kleinen Tochter ins Ohr, »der Name passt zu dir.«
Madhrab war enttäuscht.
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