Kryson 06 - Tag und Nacht
rief Murhab aufgeregt.
Der Kapitän und Todsänger war außer sich vor Freude und sprang immer wieder in die Luft. Sie hatten so lange in der Dunkelheit gesessen und gewartet, dass er sich bereits selbst wie ein Schatten fühlte. Das Licht hatte ihm besonders gefehlt. In den Gesprächen mit Gahaad und Kelamon hatte er zwar vieles über die Nno-bei-Maya und ihre schöne Königin erfahren. Aber er hatte sich auch Kelamons Abscheulichkeiten anhören müssen. Kelamon war eine kranke Seele, die nie wieder auf die Lebenden losgelassen werden durfte.
Murhab sprang auf und rannte aus der Höhle.
»Wohin wollt Ihr?«, fragte Gahaad.
»Das Licht! Es sucht nach uns. Wir müssen ihm folgen und herausfinden, woher es kommt«, meinte Murhab.
Gahaad drehte den Kopf und plötzlich war auch er nicht mehr zu halten. Es war nicht nur das Licht, das er gesehen hatte. Es waren die leisen, schiefen Klänge, die es begleiteten.
»Bei den Kojos«, rief der Schatten des ersten Kriegers, »sie rufen uns aus dem Reich der Schatten zurück. Schnell! Achtet darauf, das Licht nicht zu berühren.«
»Ich bin kein Schatten«, meinte Murhab.
»Stimmt. Das hätte ich beinahe vergessen«, antwortete Gahaad, »wie so vieles, seit ich hierher verbannt wurde.«
Kelamon hatte den Lichtstrahl ebenfalls entdeckt und gesellte sich erwartungsvoll zu Murhab und Gahaad.
»Ich komme mit Euch«, sagte Kelamon, »wo immer uns das Licht auch hinführen wird. Es kann nicht schlechter sein als an diesem Ort. Ihr werdet doch an Euer Versprechen denken, Murhab?«
»Ich habe Euch kein Versprechen gegeben«, entgegnete Murhab.
»Nicht direkt, das ist wahr«, zischte Kelamon, »aber Ihr habt meinen Wunsch auch nicht abgelehnt.«
»Gehen wir«, drängte Gahaad, »wir wissen nicht, wie lange das Licht durch die Schatten dringen wird. Es muss irgendwo ein offenes Portal geben. Folgen wir dem Lichtstrahl und suchen seinen Ursprung.«
Der erste Krieger stürmte los und vermied es dabei tunlichst, in die Nähe des Lichtstrahls zu kommen. Das Licht vor Augen rannten sie in Richtung der Tür, die aus dem Land des Nebels ins Reich der Schatten führte.
Murhab sah sich immer wieder nervös um. Der Gesang störte ihn. Die Todsänger achteten auf Harmonie und Schönheit. Dieser Gesang war anders. Er hätte sich am liebsten die Ohren verstopft und wäre davongelaufen, statt den eigenartigen Tönen zu folgen. Er fragte sich, ob der Gesang eher dazu gedacht war, die Schatten zu vertreiben, statt sie anzulocken.
Als Murhab wieder über die Schulter blickte, bemerkte er, wie der Nebel des Vergessens sich verdichtete und mit seinen Schleiern und Schwaden auf sie zuwaberte.
»Schneller!«, rief er den anderen beiden zu. »Wir müssen die Tür erreichen, bevor der Nebel uns erreicht und eingeschlossen hat. Er hat uns entdeckt.«
Die Schatten bewegten sich rasend schnell. Murhab hatte Mühe, Anschluss zu halten.
*
»Gahaad ist auf dem Weg«, sagte die Priesterin, »er hat meinen Gesang gehört und unser Licht entdeckt.«
»Wie weit ist er noch entfernt?«, wollte Saykara wissen.
»Er hat es noch nicht ins Reich der Schatten geschafft«, antwortete die Priesterin, »der Nebel des Vergessens verfolgt ihn.«
»Können wir ihm helfen?«, fragte Saykara voller Sorge. »Was ist mit dem Todsänger, den ich ihm geschickt habe? Kannst du ihn sehen?«
»Ich sehe ihn«, behauptete die Priesterin, »er ist bei ihm.«
»Gut. Schick ihm ein Zeichen. Er soll den Nebel ablenken und aufhalten.«
»Er müsste sich für Gahaad opfern, meine Königin«, erwiderte die Priesterin.
»Dann soll er sich opfern! Gahaad ist tausendmal mehr wert als dieser Kapitän.«
Die Priesterin tanzte weiter um die Statue herum, verstärkte ihren Gesang und veränderte ihn. Sie mischte Rufe und gutturale Laute dazwischen, die sich für Sapius anhörten, als würden sie eine verschlüsselte Botschaft übermitteln.
Das steinerne Herz in der Statue begann sich zu verändern. Seine feste Hülle begann plötzlich aufzuplatzen und abzublättern. Stein wandelte sich in rotes, festes, pulsierendes Fleisch. Mit dem Gehirn des Kriegers geschah dasselbe. Leben schien langsam in die Artefakte zurückzukehren.
*
Der Ruf der Priesterin erreichte Murhab während der Nebel näher und näher rückte. Er rannte den Schatten hinterher, die geradezu panisch vor dem Nebel des Vergessens flohen.
»Halte den Nebel auf. Rette Gahaad!«, lautete die Anweisung der Priesterin.
Murhab wusste nicht, wie er das anstellen sollte.
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