Kryson 06 - Tag und Nacht
wieder zusammengefügt. Die Prüfung musste vorbei sein. Weshalb griff ihn der vierte Wächter noch an? Sie hatten drei Streiter während des Kampfes im Netz verloren. Ein herber Verlust.
Die Tentakel wickelten sich um Sapius’ Beine. Der Magier spürte den Schmerz von den Dornen am vorderen Ende, die sich in sein Fleisch bohrten.
»Sapius! Worauf wartest du? Wirf mir das Buch zu!«
Grenwin versuchte, den Magier zu sich zu ziehen. Sapius stemmte sich mit all seiner Kraft dagegen. Hektisch blickte er über die Schulter und entdeckte eine dicht mit weißen Haaren bepelzte Spinne, die ihn aufmerksam musterte. Sie sah aus, als würde sie ihn angrinsen. Sie war so groß wie ein ausgewachsener Mann. Sie musste sich verborgen haben und erst vor Kurzem hinzugekommen sein.
»Los! Gleich ist es zu spät, dann ist alles verloren und die Streiter mussten umsonst sterben.«
Endlich begriff Sapius. Die Stimme kam von Tomal. Der Lesvaraq hatte sich unbemerkt in eine Spinne verwandelt, während das Chaos im Netz herrschte. Beinahe hegte Sapius Respekt für den Lesvaraq. Zum ersten Mal seit langer Zeit.
Sapius warf Tomal das Buch zu, der es geschickt auffing und sich sofort damit davonmachte. Grenwin brüllte und zog an den Beinen des Magiers. Die Raupe hatte ihr Maul weit aufgerissen.
»Meinen Kopf bekommst du nicht«, grollte Sapius und biss die Zähne zusammen.
»Elender Dieb!«, brüllte Grenwin, »gib mir das Buch zurück. Es gehört mir.«
»Nein!«, schrie Sapius zurück. »Wir haben es uns in einem harten Kampf erstritten. Ihr habt alles aufgeboten, um es zu behalten. Wir haben dennoch gewonnen. Die Schlacht ist vorbei«
»Ihr habt meine Kinder und Peeva getötet. Jetzt bist du Raupenfutter.«
Sapius konnte sich nicht länger halten. Grenwin war zu stark und die Tentakel hatten ihn fest im Griff. Der Magier rutschte immer näher an das Maul der Raupe heran.
»Grenwin! Lass ihn los«, rief Tarratar plötzlich von der Brücke.
»Nein!«, weigerte sich der vierte Wächter.
»Ich sage dir, lass ihn los!« Tarratar klang verärgert und schüttelte energisch den Kopf, bis die Glöckchen an seiner Kappe Sturm klingelten. »Daleima! Bring ihn zur Vernunft.«
Grenwin knurrte, fletschte mit den Zähnen und verstärkte den Zug. Sapius verlor das Gleichgewicht und stürzte auf das Netz. Er sah noch, wie die zweite Wächterin ins Netz sprang und sich kraftvoll und schnell über die Fäden zu ihm und Grenwin vorarbeitete. Sie setzte gebogene Dorne ein, ähnlich wie die an Grenwins Tentakeln, die sie sich mit Lederschnüren unter die Handflächen gebunden hatte und in die Fäden einhakte. Der vierte Wächter schob seinen fetten Leib über Sapius und drückte ihn fester ins Netz. Sein Maul befand sich nun direkt vor Sapius’ Gesicht. Speichel tropfte auf Sapius’ Wange. Grenwin riss das Maul weit auf und hauchte Sapius seinen stinkenden Atem ins Gesicht. An den Zähnen hingen noch blutige Fleischfetzen seiner vorherigen Mahlzeit. Er senkte sein Haupt herab, zog die fleischigen Lippenwülste zurück, stülpte sein Maul über Sapius’ Kopf und half mit den Tentakeln nach.
Der Magier schloss die Augen. Es war vorbei. Alle Mühen waren vergebens.
Er steckte mit dem Kopf im Rachen der Raupe. Es konnte nur noch einen Augenblick dauern, bis sich das Maul schloss und Grenwin ihm den Kopf vom Hals sägte. Sapius bekam keine Luft mehr und drohte zu ersticken.
»Nun mach schon, bring es zu Ende«
, flehte Sapius,
»reiß mir lieber den Kopf ab, bevor ich noch jämmerlich ersticke.«
Grenwin schloss sein Maul um den Hals des Magiers.
»Neeeeeein«, hörte er die entsetzte Stimme des Narren weit entfernt rufen. Es war das Letzte, was Sapius hörte. Dann wurde es Nacht um ihn.
Die Flotte der Königin
T omal fühlte sich großartig. Er hatte das Buch an sich gerissen, sich aus dem Netz abgeseilt und war sofort aus der Kaverne nach Zehyr geflohen. Endlich hielt er in den Händen, was er sich so lange sehnlich gewünscht hatte. Das Buch der Macht. Es würde ihn unsterblich machen. Mithilfe des Buches konnte er sich eine Welt erschaffen, wie er sie sich vorstellte. Er war mehr als ein Lesvaraq. Ein Gott. Ein Kojos. Vergangenheit und Zukunft Krysons lagen in seinen Händen. Tomal entschied über Leben und Tod. Er war der Herr über Tag und Nacht.
Das dicke, in Leder gebundene Buch, dessen Seiten mit Blut beschrieben waren, fühlte sich schwer und gut an. Er konnte es kaum glauben, dass er derjenige war, der am Ende gesiegt hatte und
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