Kryson 06 - Tag und Nacht
mit dem Leben davongekommen war.
Während seiner Flucht aus dem Netz hatte er gesehen, wie Sapius von Grenwin gefressen worden war. Sein einst bester Freund, Vertrauter und Lehrer, der nach ihrer Trennung zu seinem größten Feind geworden war, hatte in ihrem letzten Kampf bei der Suche nach dem Buch einen schrecklichen Tod erfahren. Beinahe tat Sapius ihm ein wenig leid. Es war nicht schön, von einer gefräßigen Raupe kurz vor dem Sieg geköpft zu werden. Sapius hätte etwas Besseres verdient. Einen Tod durch einen magischen Blitz, eine Feuersbrunst oder einen Schwertstoß mit der Klinge Solatar. Tomal zuckte mit den Schultern. Er konnte es nicht mehr ändern. Oder etwa doch?
Vorsichtig schlug er das Buch auf. Er überflog ganze Seiten, blätterte um und blieb schließlich auf einer Seite hängen.
»Ihr könnt diese Seite nicht mehr ändern«, hörte er eine Stimme und zuckte heftig zusammen.
Tarratar stand plötzlich in seinem Rücken. Der Narr hatte sich unbemerkt angeschlichen. Tomal klappte das Buch zu und presste es fest an seine Brust.
»Was wollt Ihr von mir?«, fuhr er den Narr an. »Die Suche ist vorbei. Das Buch wurde gefunden. Die Prophezeiung hat sich erfüllt und ich bin der Sieger. Weshalb kann ich die Seite nicht ändern?«
»Diese Seite wurde festgeschrieben«, führte Tarratar aus, »das Buch bestimmt, was bleibt und was geht. Ereignisse, die sich unmittelbar um das Buch drehen oder die von besonderer Bedeutung für das Gleichgewicht sind, bleiben unveränderlich. Was auch immer Ihr schreibt und in der Vergangenheit oder an der Zukunft ändert. Der letzte Kampf um das Buch der Macht und das Ende der Suche bleiben gleich. Merkt Euch diese Regel.«
»Ihr wollt das Buch nicht zurückhaben?«, fragte Tomal verunsichert.
»Ich hatte tatsächlich daran gedacht, es Euch wegzunehmen«, meinte Tarratar. »Das Buch hatte sich bereits für Sapius entschieden. Ihm gelang es, die beiden Teile wieder zusammenzufügen. Aber er gab es leichtfertig auf und ließ sich von Euch täuschen. Er dachte wohl, er könne ohne das Buch in der Hand besser gegen den vierten Wächter antreten. Das war ein Fehler. Er hätte das Buch festhalten sollen. Grenwin hätte ihn nicht angetastet, solange er das Buch in den Händen hatte. Wir Wächter waren uns alle darüber einig, dass es Euch nicht gehört. Dennoch haben wir beschlossen, dass Ihr es behalten dürft. Wir haben lange darüber gestritten. Ihr seid ein Lesvaraq. Ulljan beauftragte einst die Wächter, über das Buch zu wachen, nachdem er es den Altvorderen entwendet hatte. Auch er war ein Lesvaraq. Ihr seid sein Erbe. Es steht den Wächtern nicht zu, die Entscheidungen eines Lesvaraq infrage zu stellen, selbst wenn wir es könnten und sein Verhalten für falsch hielten. Das wäre ein Verstoß gegen das Gleichgewicht. Die Lesvaraq haben die Aufgabe, die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten und dabei das Gleichgewicht zu wahren. Solange Ihr Euch daran haltet, dürft Ihr das Buch besitzen und benutzen. Aber ich warne Euch. Brecht Ihr die Regeln und missbraucht die Macht des Buches, werden wir Euch das Buch wieder wegnehmen und korrigieren, was Ihr angerichtet habt. Es gibt keine Sicherheit. Und hütet Euch, das Buch an die Königin der Nno-bei-Maya zu übergeben.«
»Sie wird es nicht von mir bekommen«, versicherte Tomal.
»Sie wird es von Euch verlangen«, sagte Tarratar, »seid Ihr sicher, dass Ihr dem Fluch der Schönheit widerstehen könnt?«
»Wenn es um das Buch geht, ja«, meinte Tomal.
»Gut. Dann werde ich jetzt gehen. Meine und die Aufgabe der anderen Wächter ist erledigt. Grenwin wird auf Kartak bleiben und Saykara als Wächter des Weges der Spinne dienen.«
Tomal konnte sein Glück kaum fassen. Er durfte das Buch der Macht behalten. Der Lesvaraq musste lachen. Wie naiv die Wächter doch waren.
»Was hätten sie auch anderes tun sollen«
, dachte er.
»Hätten sie das Buch zurückverlangt, hätte ich sie vernichtet. Alle.«
*
Wenige Stunden nach dem Gewinn des Buches hatte der Lesvaraq eine Einladung zum Essen von der Königin erhalten. Er hätte die Einladung liebend gerne ausgeschlagen und stattdessen im Buch der Macht gelesen. Was war schon ein Essen mit der schönsten Frau Krysons gegen das Gefühl der Macht, das ihm das Buch vermittelte? Aber das ging nicht. Er musste baden, sich ankleiden und anschließend zu ihr gehen. Sie wartete nicht gerne. Würde er sie warten lassen, wozu er große Lust hatte, würde sie ihm das Essen verderben.
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