Kryson 06 - Tag und Nacht
wieder. Die Schatten tanzten und tanzten ohne Unterlass. Sie flüsterten, zischten und schrien. Aber sie konnten sich nicht von der Macht befreien, die der Schattenmann auf sie ausübte. Sie mussten gehorchen, bis sie schließlich alle um ihn versammelt waren. Madhrab kannte das Gesicht. Er hatte es schon einmal gesehen, als er Regent in Tut-El-Baya war und vor den Rachuren kapituliert hatte. Madhrab kannte das Gewand und er erinnerte sich an den Schattenbeschwörer.
»Thezael!«
, die Erkenntnis fiel Madhrab wie Schuppen von den Augen,
»der oberste Praister.«
»Geht und sucht Jafdabh, den Todeshändler«, befahl Thezael den Schatten.
Die Stimme des Praisters klang belegt und sie überschlug sich, während er den Schatten Befehle gab. Er war aufgebracht. Madhrab konnte fühlen, dass der Totenbeschwörer Angst hatte und zugleich wütend war.
»Bringt mir diesen Frevler. Findet ihn und schleppt ihn zu mir. Ich will ihn lebend. Hört ihr? Lebend. Ihr werdet ihn nicht in das Reich der Schatten bringen und wehe euch, ihr fügt ihm Schaden zu. Ich und nur ich alleine will ihn in Stücke schneiden. Er soll meinen Zorn und meinen Hass bis zu seinem Ende spüren. Ich will, dass er leidet. Lange und ausgiebig. Sein Leben und seine Seele gehören mir. Ich befehle euch, bringt mir Jafdabh! Unversehrt!«
Madhrab spürte, dass die Worte des Praisters falsch waren. Thezael missbrauchte seine Macht über die Schatten.
»Das dürfen wir nicht!«, fauchte Madhrab.
»Das dürfen wir nicht«, stimmten die anderen Schatten sofort mit ein, während sie wie ein Sturm um den Schattenbeschwörer wirbelten.
»Was?«, schrie Thezael entsetzt. »Ihr wollt mir nicht gehorchen? Bringt mir den Todeshändler oder ich werde Euch zeigen, was geschieht, solltet Ihr Euch meinen Befehlen widersetzen.«
»Wir müssen tun, was er sagt«, zischte Gwantharabs Stimme neben Madhrab.
»Warum?«, wollte Madhrab wissen.
»Er beherrscht uns, solange wir noch nicht in den Nebel des Vergessens gegangen sind«, flüsterte Warrhard.
»Nur im Nebel des Vergessens können wir uns den Totenbeschwörern endgültig entziehen«, bestätigte Corusal.
»Und wenn er es ist, der den Weg in den Nebel versperrt, um die Schatten für seine Zwecke gefügig zu halten?«, fragte Madhrab.
»Das könnte durchaus sein«, räumte Corusal ein, »aber das ändert nichts. Er gebietet, wir folgen.«
»Aber ich kann fühlen, dass seine Befehle nicht richtig sind. Jafdabhs Zeit ist noch nicht gekommen«, flüsterte Madhrab, »spürt Ihr das denn nicht?«
»Doch!«, antwortete Warrhard. »Trotzdem müssen wir gehorchen und ihm Jafdabh bringen.«
Thezael starrte die um ihn herum tanzenden Schatten an, als wolle er einzelne von ihnen erkennen. Der Praister kniff die Augen zusammen. Ein Schrei löste sich von seinen Lippen, der die Schatten in ihrer Bewegung innehalten ließ. Der Praister stieß einen entsetzlichen Schrei aus, als ob er plötzlich fürchterliche Qualen erleiden müsste.
»Rasch«, keuchte Thezael, »sucht das widerliche Schwein! O nein … halt … es ist schon wieder zu spät. Er beraubt mich meiner Macht. Die Vision … bei den Kojos, wie furchtbar. Ich … ich kann euch nicht … nicht mehr halten. Geht … geht zurück in das Reich der Schatten und vergesst meine Befehle nicht. Ich rufe euch wieder … eilt euch … es bleibt mir nur wenig Zeit.«
Die Schatten nahmen ihren Tanz wieder auf. Doch sie befanden sich an einem ganz anderen Ort. Thezael stand nackt und bis aufs Blut gepeinigt an einen Pfahl gekettet im Wasser. Es war schmutzig. Eine Kloake. Das Wasser reichte ihm bis zum Bauch. Es stank erbärmlich und war kalt. Die aufgeplatzten Lippen des Praisters waren bereits blau angelaufen. Madhrab sah sich um. Sie umkreisten den Schattenbeschwörer in einem Fluss. Ein Nebenarm des Rayhin, der in einem künstlich befestigten Kanal mitten durch Tut-El-Baya ins Ostmeer floss. Eine Kloake, bestehend aus Abwasser, angefüllt mit allerlei Abfall, Lebensmittelresten und Fäkalien aus der von Klan überfüllten Stadt.
So etwas hatte Madhrab nie zuvor gesehen. Der Kanal musste neu sein. Viele Klan standen am oberen Rand der Kloake, johlten vor Schadenfreude, zeigten mit den Fingern auf den Angeketteten, verspotteten ihn und bewarfen ihn mit faulem Gemüse.
Die Schatten spürten, wie die Macht des Schattenbeschwörers mit jeder Sardas schwand. Sie konnten sehen, wie die Fische und Krebse an ihm nagten. Thezael schrie erneut.
»Aaaah … die Schmerzen!
Weitere Kostenlose Bücher