Kryson 06 - Tag und Nacht
Poll seinen Gefährten getötet hatte. Gelegentlich waren sie Praistern begegnet, die kurz grüßten, ansonsten aber anscheinend keinen Verdacht schöpften. Nur selten blieb ein Praister stehen und blickte Sapius misstrauisch an. Poll wedelte dann jedes Mal mit den Händen, als wolle er durch die Geste den Verdacht vertreiben. Je tiefer sie allerdings in den Tempel vordrangen, desto kritischer und länger wurden die Blicke.
»Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen«
, dachte Sapius,
»was geht mich dieser Schattenpraister Thezael an. Am Ende bringe ich die gesamte Praisterschaft gegen mich auf und das scheinen nicht gerade wenige zu sein.«
»Wir sind gleich bei Thezael«, sagte Poll plötzlich und blieb stehen, »nur noch um eine Ecke und den Gang entlang bis zum Ende. Dort liegen Thezaels persönliche Gemächer und die Kammern, in denen er arbeitet. Ich denke, Ihr solltet ab hier vorausgehen.«
»Das könnt Ihr vergessen, Poll«, entgegnete Sapius, »Ihr werdet schön vorgehen und den ersten Schlag führen.«
»Wie Ihr wünscht, Herr«, antwortete Poll.
Poll schlenderte gelassen weiter, als wäre ihr Vorhaben das Selbstverständlichste auf Kryson, wie ein Besuch bei einem alten Freund. Als Poll vor einer eisenbeschlagenen Tür stehen blieb und die Hand hob, als wolle er anklopfen, wurde es Sapius zu viel.
»Halt!«, sagte er, »Ihr wollt doch nicht etwa an der Tür klopfen und unser Kommen ankündigen?«
»Wieso nicht?«, erwiderte Poll. »Das gehört sich so unter Praistern. Thezael schätzt es nicht, bei seiner Arbeit gestört zu werden. Wir dürfen seine Gemächer nicht unaufgefordert betreten.«
»Ach nein?« Sapius wurde ärgerlich. »Ich denke auch nicht, dass er es schätzen wird, wenn wir ihn töten wollen. Die Überraschung wäre dahin, solltet Ihr an die Tür klopfen. Also öffnet die Tür und lenkt ihn ab.«
»Wie soll ich ihn ablenken?«
»Greift ihn an, meinetwegen mit Eurem Dolch, so wie Ihr es bei Fayzel getan habt.«
»Thezael ist nicht Fayzel. Er weiß bestimmt schon, dass wir kommen und was wir vorhaben. Er wird uns erwarten und vorbereitet sein.«
»Wie kommt Ihr darauf?«, wollte Sapius wissen.
»Die Schatten werden es ihm erzählt haben oder ein Praister, der uns gesehen hat. Im Tempel der Praister haben die Wände Augen und Ohren. Thezael sieht und hört beinahe alles, was in diesen Gemäuern geschieht.«
»Na schön, dann werden wir die Letzten sein, die Thezael zu sehen bekommt«, antwortete Sapius mit grimmiger Entschlossenheit. »Öffnet endlich die Tür.«
Poll gehorchte, schob den Riegel leise zur Seite und stieß die Tür weit auf. Bevor Sapius folgen konnte, sprang Poll mit einem Satz in die Kammer des obersten Praisters und begann laut zu schreien.
»Thezael, Vorsicht!«, warnte Poll den obersten Praister: »Ich musste einen Fremden zu Euch führen. Er zwang mich dazu, nachdem er unseren Bruder Fayzel getötet hat. Er ist ein verräterischer Ketzer, der auch Euch ermorden will.«
»Das hast du gut gemacht, Poll!«, hörte Sapius eine andere, unangenehme Stimme aus der Kammer. »Keine Sorge, ich habe bereits auf Euch gewartet. Aber über Fayzel müssen wir noch reden, sobald dies hier vorüber ist!«
Sapius spähte durch die weit geöffnete Tür, konnte in der Kammer jedoch nicht viel erkennen. Das Licht war schummrig und flackerte. An den Wänden tanzten zahlreiche Schatten. Der Magier nahm den Stab des Farghlafat fest in die Hand und erzeugte ein starkes, helles Licht, das am Stabende aufleuchtete. Er nahm all seinen Mut zusammen und betrat die Kammer.
Thezael stand mit einem blutigen Messer hinter einem Tisch, auf dem der vom Hals bis zum Rumpf aufgeschnittene Leichnam einer Frau lag. Ihre Augen und ihr Mund waren zugenäht und die Gedärme hingen heraus. Ein erbärmlicher Verwesungsgestank lag in der Kammer. Sapius wurde übel.
»Tretet doch näher«, lud ihn Thezael ein, »ich bin noch nicht fertig mit meiner Arbeit. Ihr dürft mir dabei zusehen. Das ist eine Ehre für einen Fremden. Ich habe die Schatten bereits gerufen, sie lauern ganz in der Nähe auf ihre Beute. Aber sie müssen sich gedulden, bis ich mein Werk vollendet habe. Das arme Ding. Sie war erst zweiundzwanzig Sonnenwenden alt und gerade frisch verliebt. Voller Hoffnung und Lebensfreude. Jetzt liegt sie schon seit vier Tagen tot auf meinem Tisch und ich bereite sie auf ihren letzten Gang zu den Schatten vor. Sie stand in Jafdabhs Diensten. Eine zähe junge Frau. Sie hat der Befragung sehr
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