Kryson 06 - Tag und Nacht
Entfesselten folgen. Dies ist das letzte Mal, dass mein Geist mit dir spricht. Danach werde ich vergehen und im Nichts verschwinden. Du wirst mich bald vergessen und dich nie wieder an mich erinnern. Es wird so sein, als hätte ich niemals gelebt.«
»Ayale, nein! Das ist nicht gerecht. Du darfst nicht gehen. Nicht so!«
»Denk an meine Worte, Kind«, zischte Ayale, »Sapius wird kommen und er wird Unmögliches von dir verlangen. Hilf ihm! Egal was es auch sein mag. Es wird ihm schwerfallen. Er wird zögern und zweifeln. Nimm ihm die Last der Entscheidung. Du wirst wissen, was zu tun ist, wenn es so weit ist.«
»Ayale …« Elischa war verzweifelt.
»Ich muss gehen«, fauchte Ayale, »sie rufen mich. Aaaah … die Entfesselung. Mein Geist schwindet schon … leb wohl, Elischa!«
Ayales Geist verschwand im Nichts und ließ Elischa verwirrt und erschreckt zurück. Der Geist verlangte von ihr, dass sie den Orden aufgab. Konnte sie ihr vertrauen? Ayale war eine Saijkalsan-Hexe und damit den magischen Brüdern verbunden. Das hatte sie ihr vor kurzer Zeit gestanden. Der Orden war den Saijkalrae von jeher ein Dorn im Auge. Aber Ayale war auch eine Ordensschwester gewesen. Eine der ältesten und treuesten und ihre Freundin. Elischa war die heilige Mutter, das Oberhaupt des Ordens. Sie würde den Orden niemals aufgeben können. Sie konnte sich nicht erklären, was die Andeutungen über Sapius zu bedeuten hatten. Es war einige Zeit vergangen, seit sie den Magier zuletzt gesehen hatte. Was würde er von ihr verlangen? Würde er überhaupt kommen? Wahrscheinlich bildete sie sich das alles nur ein und es gab weder einen Geist noch einen Besuch. Der plötzliche Tod ihrer Freundin überforderte sie. Elischa versuchte sich einzureden, dass es sich bei der Geistererscheinung nur um eine Wahnvorstellung handelte.
Langsam beruhigte sie sich wieder. Sie musste sich um Ayales Bestattung kümmern. Einen Abschied in Würde, eine Zeremonie im Beisein ihrer Schwestern. Das hatte Ayale verdient. Elischa blickte noch einmal auf den Leib ihrer toten Schwester. Es war kein schöner Anblick. Die weit aufgerissenen Augen, die Zunge, die Verrenkungen der Glieder und die Würgemale am Hals. Sie würden den Leichnam vorbereiten und die Spuren der Gewalt verdecken müssen. Eine Arbeit, die Elischa schwerfiel, die sie jedoch selbst verrichten wollte. Das war sie Ayale schuldig. Niemand sonst sollte Hand an die alte Orna legen.
»Ich werde mir Mühe geben«, flüsterte Elischa ihrer toten Freundin zu. »Du sollst friedlich und gut aussehen, wenn du deine letzte Reise antrittst.«
Elischa stand auf und verließ Ayales Kammer. Auf dem Flur traf sie einige Ordensschwestern, die aufgeregt miteinander tuschelten. Es war nicht gut, wenn zu viele Gerüchte in Umlauf kamen. Die Schwestern sollten sich beschäftigen. Das brachte sie auf andere Gedanken. Die Kammer der Toten musste aufgeräumt und gereinigt werden.
Sie erteilte den Ordensschwestern Anweisungen zur Vorbereitung der Bestattungszeremonie. Ayale musste in eine Kammer unterhalb des Haupthauses gebracht, entkleidet und dort auf einen der Präparationstische gelegt werden. Zuerst würde Elischa den Leichnam waschen, bevor sie die Glieder richtete.
Elischa machte sich inzwischen auf, in den Krankenräumen Werkzeug und Material zu besorgen. Womöglich würde sie der Toten die Arme und Finger brechen müssen, um sie in eine ruhende Lage zu bringen. Davor graute der heiligen Mutter. Elischa wusste, die Arbeit würde lange dauern und anstrengend sein. Aber sie würde sie von den Gedanken über den schmerzlichen Verlust ablenken, hoffte sie.
In der Präparationskammer unter dem Haus der heiligen Mutter war es kalt und feucht. Die Ordensschwestern hatten Ayales Leichnam aus ihrer Kammer geholt und auf einem der Tische aufgebahrt, als die heilige Mutter mit Werkzeug, Stoffen und anderem Material die Kammer betrat. Sie hatten den Leichnam bereits entkleidet und mit einem großen Tuch bedeckt. Elischa atmete tief durch, seufzte und trat nahe an den Tisch heran. Sie konnte mit der Arbeit beginnen.
Das Licht der beiden von der Decke hängenden Öllampen war gerade ausreichend, um genug sehen zu können. Ansonsten erzeugten die Lampen eine eher schummrig gespenstische Atmosphäre.
Einige Horas später hatte Elischa die schwerste Arbeit erledigt. Die Arme und Hände der Toten lagen gerade neben dem Körper. Augen und Mund waren geschlossen, die Zunge im Mund verschwunden und die Würgemale geschickt
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