Kryson 06 - Tag und Nacht
sein Unwesen hinter den Ordensmauern treibt«, erinnerte Elischa an die schrecklichen Ereignisse um den Tod der heiligen Mutter. »Ruft die Schwestern zusammen und schickt umgehend nach den Bewahrern. Vielleicht ist der Mörder noch unter uns und versteckt sich. Ich will wissen, ob irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Ich will von allen Besuchern der letzten Tage wissen, wer sie sind, wann genau sie kamen und wieder gingen und was sie im Orden zu suchen hatten. Außerdem bringt in Erfahrung, wer zuletzt bei Ayale war und wer sie um welche Zeit noch lebend gesehen hat. Ich will mit allen persönlich unter vier Augen reden, die mit Ayale in den letzten Horas Kontakt hatten. Und beeilt Euch. Sollte der Mörder noch unter uns sein, werde ich ihn finden und zur Strecke bringen. Das schwöre ich im Angesicht meiner toten Ordensschwester.«
»Aye, heilige Mutter«, nickten die Ordensschwestern eifrig Sie rannten aus der Kammer, als wäre ein Krolak hinter ihnen her.
Elischa setzte sich neben Ayale auf das Lager, weinte und strich der Freundin zärtlich über die Wange.
»Es tut mir leid, Ayale«, flüsterte die heilige Mutter. »Wer hat dir das nur angetan?«
Sie versuchte Augen und Mund der Toten zu schließen und die Hände in eine andere, ruhende Position zu bringen. Es wollte ihr nicht gelingen. Schließlich gab sie den Versuch händeringend und fluchend auf, sprang auf, trat und schlug wütend um sich und machte ihrer Trauer schreiend Luft. Elischa zerschlug einen Schemel an der Wand. Doch plötzlich spürte sie die Gegenwart der Schatten in der Kammer und hielt inne. Sie atmete schwer und lauschte angespannt.
»Wer ist da?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»Wenn du nur wüsstest«, flüsterte eine tonlose Stimme in ihrem Kopf, »es ist noch viel schlimmer, als du denkst. Das ist erst der Anfang.«
Ein kalter Hauch strich über ihren Nacken. Elischa fror und zitterte am ganzen Leib. Etwas befand sich mit ihr in der Kammer der Toten. Es war ganz in der Nähe. Lauerte es auf sie? Elischa konnte es spüren. Es war nicht körperlich und nicht natürlich. Ein Geist?
»Ayale, bist du das?«
Die heilige Mutter erhielt keine Antwort auf ihre Frage, aber sie konnte fühlen, dass die Schatten nahe waren. Was wollten sie von ihr? Ayale war tot. Sie hatten die alte Ordensschwester bereits geholt. Wollten sie ihr etwas Wichtiges mitteilen?
»Das Ende ist nah«, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf, »der Orden stirbt und du mit ihm. Gib den Kampf und die Hoffnung auf. Beende das Leiden. Deine Aufgabe ist erledigt. Das Erbe Ulljans wurde längst angetreten. Du wirst bald Besuch erhalten. Du kennst ihn. Was auch immer er verlangt, musst du ihm gewähren. Empfange ihn und ergib dich deinem Schicksal. Du kannst dich ihm nicht entziehen. Ich habe es gesehen, als ich ermordet wurde.«
»Ich verstehe nicht«, rätselte Elischa, »wer spricht da?«
»Ayale«, antwortete die Stimme. »Mir bleibt nur wenig Zeit, dann muss ich zurück.«
»Was redest du? Wohin musst du gehen?« Elischa wurde hysterisch: »Wer hat dich ermordet?«
»Das habe ich mir selbst zuzuschreiben«, antwortete der Geist der Ermordeten, »ich hätte klüger sein sollen. Aber ich wollte nicht zulassen, was die Saijkalrae vorhatten, und widersprach. Der dunkle Hirte bestrafte mich. Er erwürgte mich mit seinen bloßen Händen. Ich bin gescheitert und werde schon bald den Entfesselten angehören. Wir werden als Tote über Ell wandeln und das Buch der Macht für die magischen Brüder gewinnen. Aber dabei wird es nicht bleiben. Der Hunger wird uns treiben. Die Seuche und der Wahnsinn werden sich wie die Geißel der Schatten über Ell ausbreiten und alles Leben zerstören.«
»Bei den Kojos, Ayale, das ist furchtbar«, stöhnte Elischa auf, »was kann ich tun? Wie halte ich die Katastrophe auf?«
»Du kannst sie nicht aufhalten«, flüsterte Ayale, »aber
er
kann es. Vertrau ihm und gib ihm, was er will. Er ist unsere einzige Hoffnung. Er darf nicht scheitern.«
»Wer ist er?«
»Er ist Sapius, der Magier der Dunkelheit«, antwortete Ayale, »die magischen Brüder fürchten ihn und seine Macht. Sie wollen ihn entweder wieder für sich gewinnen oder vernichten. Die Saijkalrae gaben den Entfesselten die Aufgabe, Sapius gefangen zu nehmen. Ich werde mich ihren Befehlen nicht entziehen können, sobald ich durch das Ritual an einen Toten gebunden und meine Seele entfesselt wird. Ich werde nicht mehr Herrin meiner selbst sein und den Trieben der
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