Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer

Titel: Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
sie ihre Geduld verlieren.
    »Nicht möglich«, wehren die Russen ab, »wir haben fünfzig Jahre lang euer Russisch ausgehalten, jetzt müsst ihr unser CrashLettisch erdulden.«
    Außenpolitisch pflegt Lettland das Image einer auf ewig beleidigten, von allen im Stich gelassenen Tante. Passend zu diesem Image haben sich die Letten für eine Präsidentin aus Kanada entschieden, eine ausgebildete Psychologin, die früher in Toronto in der Psychiatrie gearbeitet hat. Sie wurde 1937 in Lettland geboren, aber nach dem Tod des Vaters war ihre Familie 1944 nach Deutschland ausgewandert. Schon damals konnte sie dem Kommunismus weniger als dem Faschismus abgewinnen. Nach der deutschen Niederlage ging die Familie nach Kanada. Die Präsidentin erzählt der Presse gern, dass sie nun verstärkt Russisch lernt, um auch von der russischstämmigen Hälfte Lettlands verstanden zu werden. Sie habe schon über hundert russische Wörter gelernt. Am meisten interessiere sie sich jedoch für die russischen Sprichwörter, Bräuche und Sitten, erzählte sie in einem Interview. Diese neu erworbenen Kenntnisse setzt sie nun regelmäßig ein, wenn es darum geht, dem russischen Nachbarn Ärger zu machen.
    Besonderes aktiv wird die lettische Präsidentin jedes Mal im Mai, wenn die Russen mit Pomp und Paraden ihren Tag des Sieges feiern. In Lettland wird dieser Tag nicht gefeiert, sondern nur der Gedenktag für die Opfer des Zweiten Weltkrieges. Das Land ist weltweit Nummer eins in puncto Gedenktage pro Jahr, an Anlässen herrscht kein Mangel: der Gedenktag der Opfer des kommunistischen Terrors, der Gedenktag der Okkupation der lettischen Republik, der Gedenktag der gefallenen Helden Lettlands, der Gedenktag der Kämpfer für die Unabhängigkeit Lettlands und so weiter. Letztes Jahr war der Auftritt der lettischen Präsidentin zum Tag des sowjetischen Sieges besonderes skandalös. Mitten in die feierlichen Vorbereitungen hinein, als die Oberhäupter der ganzen Welt sich zu der großen Parade in Moskau versammelten, sagte die Lettin: »Schon wieder trinken die Russen ihren Wodka, knabbern am Trockenfisch und denken, sie hätten uns damals befreit.« Diese Bemerkung sorgte in Russland für großes Entsetzen. Tausende von Briefsendungen gingen bei den großen Zeitungsredaktionen ein. »Niemals würde man bei uns Trockenfisch zum Wodka essen«, schrieben die empörten Bürger. »Jedes Kind weiß doch, das Trockenfisch nur zu Bier passt, zum Wodka isst man Salzgurken.« Mehrere politische Verbände nahmen an der Aktion »Trockenfisch für Lettland« teil. Am Rigaer Bahnhof in Moskau wurden Wodkaflaschen und Trockenfisch neben den Gleisen ausgelegt für den Fall, dass die lettische Präsidentin jemals nach Russland kommen sollte. Besonders erfreut waren die Obdachlosen über diese Aktion: Sie feierten gleich mehrere Tage am Rigaer Bahnhof mit den dort abgelegten Vorräten den Tag des Sieges.

Der Puddingtransport
    Nur wenige Auserwählte konnten sich in den Achtzigerjahren in der Sowjetunion eine Auslandsreise leisten. Als Ersatz dafür diente in den fortschrittlichen Moskauer und Leningrader Kreisen ein Ausflug in die baltischen Republiken, das »Beinahe-Ausland« des sozialistischen Blocks. Die dicken alten Stadtmauern, die Kirchen mit hohen spitzen Türmen, die mit Kopfstein gepflasterten Straßen und die fein angezogenen Balten, die Russisch mit einem deutlich westlichen Akzent sprachen – all das vermittelte den gewünschten Eindruck, weit weg von zu Hause zu sein. Nicht umsonst wurden alle sowjetischen Filme, die im Ausland spielten, in den engen Gassen von Riga, Vilnius oder Tallinn gedreht. Eine Reise in die baltischen Republiken war für uns außerdem relativ preiswert und leicht zu organisieren. Mit meinen Freunden fuhr ich fast jedes Jahr nach Riga, immer mit mikroskopischen Geldsummen in der Tasche, aber in der festen Überzeugung, unsere lettischen Freunde und Bekannten würden uns nicht im Stich lassen. Und so geschah es dann auch jedes Mal.
    Für die geldlose Jugend der beiden russischen Hauptstädte gab es damals zwei Möglichkeiten, Lettland per Anhalter zu erreichen. Der erste Weg führte über Pskow. Das war der direkteste und kürzeste Weg, er hatte nur einen Haken: die so genannte Biegung bei Groß-Korostilewo, einer der toten Flecken auf der sowjetischen Landkarte. Wie durch einen Zauber hielten alle LKWs, die aus Moskau oder Leningrad kamen, an dieser Biegung an, setzten die Tramper ab und wechselten die Fahrtrichtung. Ein

Weitere Kostenlose Bücher