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Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer

Titel: Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Ausstieg bei Groß-Korostilewo konnte einem locker zwei Tage Lebenszeit rauben. Es gab dort weder einen Fluss noch Wald, und eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern glich einem Wunder. Dort hängen zu bleiben kam für jeden Tramper einer moralischen und physischen Katastrophe gleich. Dabei war diese Biegung keine unbewohnte Insel. Es standen dort kleine Häuser, in denen alte Menschen lebten. An einem sonnigen Tag trauten sie sich sogar aus ihren Gärten nach draußen auf die Straße. Sie waren tierlieb – viele von ihnen hatten Hühner auf dem Hof und manche sogar Ziegen. Doch wenn man diese Leute nach einem Schluck Wasser oder nach der Uhrzeit fragte, stellten sie sich sofort taub und stumm.
Deswegen galt die Biegung bei Groß-Korostilewo unter Trampern als verfluchter Ort.
    Der andere Weg nach Lettland war etwas umständlicher. Genau genommen war es ein Umweg über Narva, quer durch ganz Estland und dann über die estländisch-lettische Grenze noch einmal zweihundert Kilometer bis nach Riga. Dafür hatte man aber die ganze Zeit freundliche, hilfsbereite baltische Autofahrer in sauberen Wagen, die einem Unbekannten gern ihr Land erklärten, ihn zum Essen einluden und stets einen gutbürgerlichen, stark antisowjetischen Eindruck hinterließen. Deswegen nahmen die meisten Tramper diesen europäischen Weg, um sich vom »Sowjet« zu erholen.
    Die Grenze zwischen Russland und den baltischen Ländern war eine provisorische. Es gab weder einen Grenzposten noch einen Grenzübergang, und trotzdem konnte ein aufmerksamer Reisender den Westen buchstäblich riechen. Aus heutiger Sicht kann ich dieses Gefühl, im Westen zu sein, das uns damals Jahr für Jahr ans baltische Meer lockte, kaum nachvollziehen. War es die Natur? Die Gastfreundlichkeit? Waren es die Cafes? Ich glaube, es waren die Cafes, billige Volkskantinen, die es eigentlich überall in der Sowjetunion gab. Abgekürzt hießen sie »Obschepit« – »Punkte der gesellschaftlichen Ernährung«. In Moskau oder Leningrad waren diese Läden alles andere als empfehlenswert. Außer zu Brei verkochten Pelmenis, vergilbten Würsten und unhöflichen Angestellten in schmutzigen weißen Uniformen mit Waschlappen in der Hand war dort nichts zu holen. In der Regel wurden die »Punkte der gesellschaftlichen Ernährung« von Alkoholikern als Einschenkzentralen missbraucht.
Ganz anders sahen sie in Riga aus. Kaum in der Stadt angekommen, gingen wir sofort zu einer solchen Selbstbedienungskantine, um das unbekannte lettische Essen zu probieren. Für ein paar Kopeken konnte man dort ein fantasievolles Drei-Gänge-Menü erwerben. Aus einfachsten Zutaten konnten die Letten sehr überzeugende Kompositionen entwerfen. Jeder von uns hatte dort seine Lieblingsspeise. Während ich mich hauptsächlich auf die kalten Suppen aus Schwarzbrot und Preiselbeeren konzentrierte, verliebte sich mein Freund und ständiger Reisebegleiter Andrej in Wackelpudding, den es dort in drei Farben gab: grün, rot und blau. Anfänglich haben wir über den Pudding gelacht. Wir konnten dieser schwabbeligen Masse nichts abgewinnen. Sie sah nicht nach einem Lebensmittel aus, eher nach einem Außerirdischen, der unglücklich gelandet war. Man muss dazu sagen, dass es unsere erste Begegnung mit Pudding war, in Moskau wurden solche skurrilen Süßspeisen nicht produziert. Ich hatte zwar viel über Pudding in der Weltliteratur gelesen, aber ich stellte mir dieses Gericht danach ganz anders vor. Bei Pudding dachte ich an eine Art Torte mit Sahnecreme und Rosinen obendrauf.
    Der Wackelpudding beeindruckte meinen Freund schließlich so stark, dass er beschloss, ihn auf jeden Fall mit nach Russland zu nehmen, um seine Moskauer Freunde damit zu verwöhnen. Seine Bedenken, das zarte Ding könnte die beschwerliche Tramp-Tour nicht überleben, waren durchaus realistisch. Wir nahmen nicht zuletzt aus diesem Grund für die Rückreise den Zug. Doch auch im Zug ließ sich der Wackelpudding nicht gut transportieren, nicht im Glas und nicht in der Tüte. Er war so stark an seine lettische Herkunft gebunden, dass er sich noch vor Erreichen der Grenze auflöste. Es glich einem Wunder: Der Wackelpudding verkleinerte sich vor unseren Augen, weinte und verschwand. Dabei hinterließ er klebrige grüne Flecken an unseren Hosen und Händen. Meine These, der Pudding sei möglicherweise mit unserer Heimat nicht kompatibel, brachte meinen Freund nur noch mehr in Rage. Er versuchte, den Pudding in einer selbst gebastelten Kühltruhe mit Eis zu

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