Kuckuckskind
Komasaufen geht. In Bars und Clubs scheinen sich Jugendliche immer häufiger exzessiv zu betrinken.
Ich höre kaum hin, sondern beobachte Birgit, die es gewagt hat, fünf Minuten zu spät zu kommen. Ganz hinten im Konferenzraum hockt sie sich auf den letzten freien Stuhl und lehnt den Kopf an die Wand. Sie sieht eigentlich nicht gut erholt aus, eher müde und blass. Wahrscheinlich hat sie sich stundenlang mit Steffen gestritten oder ist erst in letzter Minute die weite Strecke zurückgefahren und hat die letzte Nacht hinter dem Steuer verbracht. Das leicht schwingende Kleid im grünen Vichy-Karo kenne ich nicht, sie muss es in Frankreich gekauft haben.
»Mehr als ein Drittel der 12- bis 16-Jährigen hatte schon einmal einen Rausch, 7% der 12- bis 14-Jährigen trinken jede Woche Bier oder Alkopops. Auch bei uns fand man schon leere Schnapsfläschchen im Papierkorb, und auf den Toiletten musste nach einem Klassenfest Erbrochenes beseitigt werden. Der Geruch ließ keine Zweifel offen«, predigt der Gecko, der sich für ein absolutes Alkoholverbot bis zur Volljährigkeit ausspricht.
Birgit springt plötzlich hoch, presst ein Taschentuch vor den Mund und stürzt aus dem Raum. Natürlich habe ich kein Mitleid, denn ich kann mir [87] genau vorstellen, wie sie in einer Raststätte Fritten mit Majo verschlang, um ohne die dringend nötige Pause weiterbrettern zu können. Sommerliche Magenverstimmungen sind im Allgemeinen selbst verschuldet.
Der Gecko schaut ihr kurz hinterher, dann spricht er weiter über Pest und Cholera beziehungsweise über Stundenpläne, Neuzugänge von Lehrkräften und ministerielle Verordnungen. Eine Kollegin, die bereits 44 ist und schon zwei Kinder hat, geht Ende des Jahres in Schwangerschaftsurlaub.
Während er zum hundertsten Mal etwas daherlabert über berufliche Weiterbildung, vordringliche Innovationen und die Neudefinition des Lehrerleitbildes, langweile ich mich zu Tode. Schließlich stehe ich auf und murmele entschuldigend, ich wolle kurz nach unserer Kollegin schauen.
Auf der Lehrertoilette steht Birgit vor dem Spiegel und reibt sich mit einem Erfrischungstuch den Schweiß von der Stirn.
»Hat es dich erwischt?«, frage ich.
Sie nickt. »Ist gleich wieder besser«, behauptet sie und sprüht sich Maiglöckchenduft ins Dekolleté.
»Bist du schon lange wieder zurück?«, will ich wissen.
»Seit zwei Wochen«, sagt sie und dreht sich zur [88] Tür. »Komm, wir müssen uns beeilen, damit sich der Gecko nicht aufbläst!« Auf dem Flur aber bleibt sie abrupt stehen, betrachtet mich staunend und stellt fest: »Du hast ja was Rotes an!«
Sie ist die Erste, die es bemerkt. Als Belohnung für den erfolgreichen Umzug schleppte mich meine Mutter in ein teures Modehaus. Ohne ihren Beistand hätte ich mir nie im Leben dieses duftige Kleid aus Seiden-Georgette zugelegt.
»Bald wirst du vierzig«, sagte meine Mutter streng, »da sollte man sich herrichten und nicht mehr wie ein Waisenkind herumlaufen. Das Rote mit den Blümchen steht dir ausgezeichnet, das wird jetzt gekauft!« Und schnell ergänzte sie noch: »Und auch getragen!« Eine Weile betrachtete sie mich zufrieden in meinem feinen Kleid, dann sagte sie völlig überraschend: » Im Tale grünet Hoffnungsglück !«
Ich war sprachlos, dass sie ausgerechnet Goethes Osterspaziergang zitierte, den mir meine Schüler so verleidet hatten.
»Und wie fängt’s an?«, fragte ich prüfend.
Sie leierte Vom Eise befreit herunter und war nicht mehr zu bremsen. Anscheinend bildet sie sich ein, dass schon ein verändertes Aussehen mein Herz vom Eise befreien könne.
[89] Mutter hatte es auch auf meinen Pferdeschwanz abgesehen. Aber wenn man dünne, glatte Haare hat, ist es die praktischste Lösung.
Der Gecko ist erst vor einem halben Jahr unser Schulleiter geworden, wir wissen alle noch nicht genau, was hinter seiner eleganten Fassade steckt. Birgit und ich sind bestimmt nicht seine erklärten Lieblinge, weil er uns schon öfters beim Tuscheln und Kichern erwischte und nicht gerade ein amüsiertes Gesicht machte. Wir beeilen uns also, an unsere Plätze zurückzukommen.
Ich habe beschlossen, Birgit zwar scharf zu beobachten, mich ihr gegenüber aber nicht anders zu benehmen als sonst. Obwohl mein Verdacht wohl berechtigt ist, würde sie mit Sicherheit bestreiten, den Urlaub mit Gernot verbracht zu haben. Am Ende der Konferenz ist sie sofort verschwunden, wir haben kaum ein privates Wort gewechselt.
Als ich am späten Nachmittag mit dem Fahrrad in
Weitere Kostenlose Bücher