Kuckuckskind
Traum. Zur Beerdigung meines Vaters ist auch meine Kusine mit ihrem Baby erschienen; sie reicht es mir weiter, um eine Schaufel mit Erde in die Grube zu werfen. Kaum habe ich das Kind auf dem Arm, als es mit der Stimme eines Vögelchens darum fleht, ich solle es nicht fallen lassen. Diese Bitte rührt mich zwar, aber ich kann nicht anders. Als ich an der Reihe bin, lege ich den Säugling auf die Schippe und opfere ihn meinem toten Vater. Ein Aufschrei geht durch die Trauergemeinde, aber zum allgemeinen Erstaunen windet sich ein kleiner Faun aus dem Gebüsch, hüpft in das offene Grab und rettet das unversehrte Kind. Er übergibt es der hysterischen Mutter und galoppiert davon wie ein junger Ziegenbock. Ich erwache und muss weinen. Leider habe ich keine Ahnung von Traumdeutung und weiß auch nicht genau, ob man beim alten Freud fündig würde.
[94] Heute ist der letzte Ferientag. Ich stehe früh auf, im Haus ist es vollkommen still. Manuel wird bis in die Puppen schlafen, so sind sie nun mal in diesem Alter. Und sein Vater? Als ich ungewaschen im Schlafanzug auf den Balkon schleiche, sehe ich ihn bereits im Garten mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung sitzen. Schnell verziehe ich mich wieder.
Später ruft mich Patrick Bernat an, dabei könnte er einfach klopfen oder klingeln. Er habe den Mietvertrag vorbereitet, ob ich ihn durchlesen und unterschreiben will.
Wir einigen uns auf 12 Uhr.
Natürlich bin ich gespannt, wie es im unteren Stock aussieht. Ich bin pünktlich; Manuel, der inzwischen aufgestanden ist, öffnet mir die Tür.
Im Wohnzimmer der Bernats steht ein Konzertflügel, der mir einen Laut der Bewunderung entlockt. »Wer spielt denn hier Klavier?«, frage ich.
»Nur meine Mutter«, sagt Manuel.
»Beruflich?«, hake ich nach und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Sie ist Sängerin an der neuen Kopenhagener Oper«, sagt Herr Bernat und bietet mir einen Platz auf einem Lehnstuhl an.
Den vorgedruckten Einheitsmietvertrag kann man in jedem besseren Schreibwarenladen kaufen; ich [95] sehe keine speziellen Klauseln, auf die ich achten müsste, also unterschreibe ich auf der Stelle. Neugierig schaue ich mich um, während Herr Bernat ebenfalls seinen Namen unter den Vertrag setzt.
Es sieht weder besonders ordentlich noch chaotisch in diesem Zimmer aus. Manche der dunklen Möbel stammen anscheinend von Manuels Großeltern, andere kamen wohl bei Bernats Hochzeit hinzu.
»Ist das Ihr Elternhaus?«, frage ich.
»Ja, hier bin ich aufgewachsen«, sagt er, »damals lebten noch zwei Tanten und meine Großmutter unter diesem Dach, und zwar in Ihrer jetzigen Wohnung. Ich bin unter lauter Frauen groß geworden.«
Erklärt das die vielen Ringe an seinen Händen? Im Urlaub hat Bernat seine grau werdenden Haare wachsen lassen und sie jetzt zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Seltsamerweise tragen wir die gleiche Frisur.
[96] 8
Nur die ganz Kleinen freuen sich noch auf den ersten Schultag, ansonsten ist er bei Lehrern und Schülern gleichermaßen unbeliebt. Einzig die Aussicht auf das Wiedersehen mit den Schulkameraden, beziehungsweise den befreundeten Kollegen, mildert den harten Anfang nach den langen Sommerferien. Immerhin darf ich wenigstens meine Klasse behalten und muss mich nicht auf neue Gesichter und Namen einstellen. Zum Glück habe ich keine wirklichen Problemfälle, keine totalen Idioten, keine Spinner oder Parias. Auch keine Schülerinnen, die sich aufreizend an- oder eher ausziehen, und keine gewalttätigen Jungen. Sie sind eher scheu, nicht distanzlos, manchmal gelangweilt, frustriert, uninteressiert und in Gedanken bei ganz anderen Dingen, aber war ich das nicht selbst in diesem Alter?
Nach zwei Wochen hat sich der Schulalltag wieder eingependelt; seitdem fällt mir auf, dass mir Birgit aus dem Weg geht. Oder ist es reiner Zufall? Im letzten Schuljahr haben wir relativ häufig [97] gemeinsame Freistunden im Lehrerzimmer verbracht. Unterscheiden sich unsere Stundenpläne jetzt stärker? Es ist mir durchaus recht, dass ich sie nur selten zu Gesicht bekomme, denn ich weiß nicht genau, ob ich mich immer verstellen könnte. Im Grunde wünsche ich ihr nichts als Ärger an den Hals, einen Anschiss vom Gecko, Pickel und Warzen oder ein von Schülern zerkratztes Auto. Auf keinen Fall jedoch eine Scheidung. Wenn Birgit zu meinem Gernot in unser Häuschen einzöge, würde ich wahnsinnig.
Ganz überraschend pralle ich in der großen Pause fast mit ihr zusammen. Anscheinend hat sich Birgit
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