Kuckuckskind
die Scheffelstraße einbiege, sehe ich schon von weitem das Auto von Patrick Bernat am Straßenrand parken. Na, das wurde auch langsam Zeit, denke ich, schließlich braucht jeder Mensch einen vollen Tag, um die Waschmaschine mehrmals zu füllen und sich von einer Urlaubsreise zu erholen.
[90] Auf dem Flur kommt mir Manuel entgegen und begrüßt mich mit einem sichtlich erfreuten »Hi!«.
Es tut gut, wenn Lehrer nicht nur als Feinde angesehen werden. Der Junge sieht bildschön aus, braun gebrannt, leicht verwildert und irgendwie erwachsener, auch seine Stimme ist tiefer geworden. Einzig sein schwarzes T-Shirt mit aufgedrucktem weißem Totenkopf missfällt mir. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass der Schädel nicht zwischen zwei gekreuzten Knochen steckt, sondern auf Flügelchen schwebt. Darunter steht: HELL WAS FULL . Um nicht als humorlose alte Schachtel zu gelten, lache ich kurz auf.
Doch Manuel scheint das neue Stück gar nicht lustig zu finden: »Es war nichts Sauberes mehr im Schrank. Meine Mutter hat es mir geschenkt, sie dachte bestimmt, das sei ein rattenscharfes Teil.«
Hm, denke ich, da haben wir ja ein ähnliches Problem. »Und meine Mutter hat mir dieses rote Kleid gekauft«, verrate ich.
»Im Gegensatz zu mir haben Sie aber Glück gehabt, Frau Reinold!«, erklärt der Charmeur.
Gleich darauf kommt sein Vater hinzu, und wir geben uns die Hand. »Guten Tag, Herr Bernat«, sage ich. »Hoffentlich sind Sie mit Ihrem Garten zufrieden. Ich hatte nicht allzu viel Zeit, aber immerhin habe ich jeden zweiten Tag die Blumen gewässert!«
[91] Er dankt mir und fragt, ob mit den polnischen Handwerkern alles geklappt hat. Und nach kurzem Zögern schlägt er vor, im Garten noch ein Glas Wein miteinander zu trinken.
»Auf eine gute Hausgemeinschaft!«, sagt Patrick Bernat, und wir stoßen an, auch mit Manuel. Wenn der Gecko sehen könnte, wie ein Schüler von gerade fünfzehn Jahren ganz selbstverständlich mit seiner Lehrerin Alkohol konsumiert, würde er ausrasten. Doch von Komasaufen kann bei einem Begrüßungsdrink nicht die Rede sein. Allerdings beurteilt man uns Lehrer kritischer als andere Berufsgruppen, wir dürfen uns in der Öffentlichkeit nicht gehen lassen. Hier im abendlichen Garten ist es jedoch so friedlich und angenehm, dass ich meine Rolle als Vorbild der deutschen Jugend ein wenig vergesse.
Manuel erzählt von Norwegen und einem riesigen Fisch, den er gefangen hat. »Mehr oder weniger aus Versehen«, sagt er fast entschuldigend. »Ich habe nur mal kurz Patricks Angel gehalten. Eigentlich finde ich diesen Sport ätzend! Und erst recht die ekligen Würmer.«
Sein Vater lächelt still und beobachtet einen Marienkäfer, der auf seinem Zeigefinger hochkrabbelt. Leider kann ich nicht erkennen, ob unter seinen vielen Ringen auch ein Ehering ist.
[92] Manuel erhebt sich als Erster und geht ins Haus, wohl um seinen Freund anzurufen.
Jetzt erst gießt sein Vater uns beiden ein zweites Glas ein, was mich zu einer listigen Frage ermutigt: »Wie gefällt eigentlich Ihrer Frau das Vagabundenleben im Wohnwagen?«
»Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht«, antwortet er.
Daraus folgere ich, dass Manuels Mutter nicht mit von der Partie war, sondern in Kopenhagen geblieben ist. Aus irgendeinem Grund bin ich froh darüber. Weitere indiskrete Fragen liegen mir zwar auf der Zunge, aber ich verabschiede mich, denn es wird ein wenig kühl. Doch kaum habe ich mich erhoben, sticht mich ein sirrendes Insekt. Das rote Kleid ist für laue Sommerabende zwar ein romantischer Blickfang, aber ein schlechter Mückenschutz.
Morgen werde er die Vogeltränke putzen und mit frischem Wasser füllen, verspricht mein Gastgeber, denn das sei die Brutstätte des Übels.
Auf der Schwelle meiner Wohnungstür liegt ein Sudoku. Ich hoffe, Manuel wird mir nicht täglich ein Rätsel verehren, so wie es meine frühere Vermieterin mit Bibelsprüchen machte. Bevor ich ins Bett gehe, trete ich noch einmal auf den Balkon. Inzwischen ist es ganz dunkel, nur die weißen Blumen leuchten vor dem Gebüsch, Nachtfalter werden von [93] meiner Lampe angelockt. Unten sehe ich, wie mein Hausherr Gläser und Weinflasche einsammelt und ebenfalls den Garten verlässt. Ein sympathischer Mann, denke ich, werfe mich mit dem Sudoku auf die Matratze und fange an, das Raster mit Zahlen zu füllen – es ist eines von der teuflischen Sorte. Manchmal wäre mir eine andere Beschäftigung im Bett sehr viel lieber.
In dieser Nacht habe ich einen seltsamen
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