Kuckuckskind
aus Rostock an. Er druckst etwas herum, fragt höflich nach meinem Befinden und plaudert über die Sehenswürdigkeiten der Hansestadt, bis er endlich zur Sache kommt: »Du, Anja, ich glaube, wir haben uns völlig verrannt. Heute kam ein Anruf aus Frankreich. Birgit war in bester Ferienlaune und so was von liebevoll und herzlich! Sie hat mir in leuchtenden Farben geschildert, welche Ausflüge sie mit ihrer Freundin bereits unternommen hat. Ich bringe es nicht übers Herz, sie zu verdächtigen…«
»Es stimmt ja sicher alles, nur musst du die Vornamen austauschen und Françoise durch Gernot ersetzen«, unterbreche ich ihn.
»Nein, nein, da liegst du völlig falsch! Ich habe höchst persönlich mit Françoise gesprochen, obwohl mein Französisch ziemlich mies ist, wie du wohl noch wissen wirst.«
»Und? Was beweist das denn? Sie hat ihre Alibi-Freundin um einen Gefallen gebeten, das ist für Birgit doch kein Problem!«
»Ich kenne meine Frau am besten«, behauptet Steffen, »zu einer solchen Verstellung ist sie wirklich nicht fähig.«
Wenn er sich da mal nicht irrt.
[83] 7
Die Sommerferien sind schon bald um, aber ich habe zum Glück das meiste geschafft. Am dreißigsten August bin ich endgültig aus dem Rattenloch weg- und in die Scheffelstraße eingezogen. Zum Abschied schob mir meine Wirtin einen Zettel mit einem rätselhaften Zitat unter die Tür:
Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Psalm 23, Vers 5
Mein neuer Vermieter ist immer noch auf Reisen, aber das ist mir ganz recht. Am liebsten hätte ich dessen eigene Wohnung inspiziert, aber sie ist natürlich abgeschlossen.
Die Anstreicher haben ihre Sache gut gemacht, denn bei den Farben hatte ich ganz spezielle Wünsche. Handwerker würgen ja gern die Vorschläge ihrer Kunden mit einem »geht nicht« oder »das würde ich mir noch mal gut überlegen« ab, aber die drei Polen waren die reinsten Künstler und verstanden [84] sowohl ihr Metier als auch mich. So leuchtet das Wohnzimmer jetzt in einem warmen Honiggelb, träumen kann ich in Wasserblau, mein Arbeitsraum wurde türkis. Nur bei der Küche gab es Differenzen, denn alle drei Maler bekreuzigten sich, als sie meine Einrichtung sahen.
»Musst rausschmeißen, Frau!«, sagte der Chef, und sein Gehilfe Mariusz schlug vor:
»Wir helfen dir. Ist Sperrmüll jeden Monat!«
Schließlich gaben sie auf, und wir einigten uns auf einen rauchbraunen Ton, weil die Küche sowieso nicht ins Bild einer heutigen Hightechausstattung passt.
Die meisten Möbel wurden pünktlich geliefert, nur das schöne große Bett nicht. Ich liege also immer noch auf der Matratze, die ich in der Mansarde entdeckt hatte. Dabei gehört die hügelige Schlafunterlage viel eher noch als das Buffet auf die Müllhalde.
Auch meine Mutter ist entsetzt über die Küche: »Kind, was hast du dir da andrehen lassen!«
»Dem geschenkten Gaul…«, tröste ich, inzwischen selbst verunsichert, und dieses Argument versöhnt sie ein wenig. Gekocht habe ich hier noch nie, obwohl mir meine Mutter einen Herd mit Ceranfeldern und einen geräumigen Kühlschrank spendiert hat. Bei dem anhaltenden warmen Wetter schmecken mir Salate oder ein Sandwich viel besser.
[85] Gernot müsste längst wieder zu Hause sein; in einem Steuerbüro gibt es keine sechs Wochen Sommerurlaub wie an einer Schule. Auch Steffen wollte nur drei Wochen in Rostock bleiben, aber er hat sich bisher nicht bei mir gemeldet. Einzig Birgit könnte theoretisch noch in Frankreich weilen.
Ein anonymer Anruf bei Gernot verschafft mir Gewissheit. Vorsichtshalber rufe ich von einer öffentlichen Telefonzelle am Bahnhof an. Wenn er sich stur an die gleichen Zeiten hält wie früher, dann müsste er gerade aus seinem Büro zurückgekommen sein. Ich wähle die Nummer, die auch lange meine eigene war, und erschrecke, als Gernot sich mit meinem Namen meldet. Im Übrigen wird sich auch Manuel mit seinem Papa bald wieder einstellen, ich bin gespannt, ob die beiden mit der Arbeit der Polen ebenso zufrieden sind wie ich.
Der Gecko leitet wie immer die Planungskonferenz. Zwei Tage vor Schulbeginn steht sein Lieblingsthema zwar nicht auf der offiziellen Tagesordnung, aber wir wissen alle, dass es ihm auch heute um Gewaltprävention und Antirassismus gehen wird. Auf einem Müllcontainer im Schulhof habe der Kollege Schuster einen rechtsradikalen Aufkleber entdeckt. Außerdem liest unser Direktor einen langen Artikel vor, in dem es um das auch Binge-Drinking [86] genannte
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