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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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kann sie sich über die Vaterschaft eigentlich selbst nicht im Klaren sein. Oder doch?
    Wenn sie mir das nächste Mal über den Weg läuft, werde ich sie auf jeden Fall auf ihre Schwangerschaft ansprechen.
    Die Gelegenheit für ein Gespräch unter vier Augen ergibt sich erst Ende Oktober. Zufällig hockt Birgit allein im Lehrerzimmer und korrigiert Hefte. Sie trägt Jeans und einen braunen Mohairpullover und macht ein verdrossenes Gesicht.
    Offensichtlich hat sie mich am allerwenigsten erwartet, denn sie fährt zusammen, als ich geradewegs [113] auf sie zusteuere. »Stimmt es wirklich? Du bist schwanger?«, frage ich ohne Umschweife.
    Sie wird rot. »Es ist nicht mein Stil, im Lehrerzimmer über meine Intimsphäre zu plaudern. Es sollte vorläufig niemand erfahren…«
    »Und warum nicht? Über kurz oder lang kannst du es sowieso nicht verbergen!«
    »Die kritische Zeit ist noch nicht vorbei, da hängt man solche Dinge nicht an die große Glocke. Woher weißt du überhaupt davon?«
    »Gernot hat es mir gesteckt, und der weiß es von Steffen«, sage ich. »Wir waren immer der Meinung, ihr wolltet keine Kinder.«
    Birgit rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum, verzieht den Mund und stopft schließlich die Hefte in ihre Mappe.
    Sie hat ihre Fröhlichkeit verloren, stelle ich fest.
    »Muss ich mich etwa rechtfertigen?«, fragt sie spitz.
    »Irgendwie schon«, behaupte ich.
    »Also gut«, beginnt sie. »Eigentlich ist es ja ausschließlich meine Privatangelegenheit, aber meinetwegen kannst du die ganze Geschichte erfahren. Als junges Mädchen mussten mir nach einer Infektion ein Eileiter, der linke Eierstock und ein Teil des rechten entfernt werden. Die Ärzte sagten damals, es sei unwahrscheinlich, dass ich jemals Kinder [114] haben könnte, nur eine geringe Chance sei vorhanden. Also musste ich mich schon relativ früh auf ein kinderloses Leben einstellen. Verhütet habe ich bei allen meinen Beziehungen nie.«
    Das kann man doch seinen Freunden gegenüber zugeben, denke ich. Eine Operation ist schließlich keine Schande.
    Birgit fährt fort: »Steffen war der Meinung, das müsse wirklich niemand wissen. Um Fragen aus dem Weg zu gehen, haben wir unsere Kinderlosigkeit als beabsichtigt hingestellt…«
    »Und jetzt? Wieso hat es nach all den Jahren auf einmal doch geklappt?«, frage ich.
    »Das weiß allein der liebe Gott«, sagt Birgit, »aber es ist eine Risikoschwangerschaft. Ich werde andauernd zum Ultraschall bestellt, muss alle möglichen Pillen schlucken und habe auf Steffens Wunsch eine Fruchtwasseranalyse machen lassen, die nicht ganz ungefährlich ist.«
    Weil ich mich in diesen Dingen nicht auskenne, erklärt sie mir, dass ihr Alter von 38 Jahren ein gewisses Risiko darstelle. Durch eine Amniozentese könne man eine genetisch bedingte Behinderung frühzeitig erkennen. »Zum Glück war der Befund völlig normal. Nebenbei haben wir erfahren, dass es ein Junge ist.«
    Birgit lächelt mich auf einmal an. Sie scheint zu [115] begreifen, wie sehr mich ihre Schwangerschaft an meine vergeblichen Hoffnungen erinnert und traurig macht; vielleicht hat sie mich überhaupt nur aus diesem Grund so lange gemieden.
    Leider kann ich es ihr auch wirklich nicht gönnen. Das Leben ist einfach ungerecht. Leute, denen es gar nicht so wichtig ist, kriegen Kinder wie die Karnickel. Und andere, die es sich so sehnlich wünschen, gehen leer aus. Etwas beschämt flüstere ich: »Freut ihr euch wenigstens?«
    Sie traue sich noch nicht, meint Birgit. Seit zwanzig Jahren habe sie geglaubt, dass sie niemals Mutter werde, jetzt müsse sie sich erst an den Gedanken gewöhnen. Und überdies dauere es ja noch eine geraume Zeit, bis das Baby geboren werde.
    »Außerdem geht es mir nicht besonders gut. Schau mal meine Haare an, wie fettig sie auf einmal sind. Und meine Haut, um die mich alle beneidet haben! Zum ersten Mal im Leben habe ich rote Flecken im Gesicht! Wadenkrämpfe und Rückenschmerzen! Nachts muss ich dauernd aufs Klo. – Aber Steffen ist überglücklich. Er stammt ja aus einer großen Familie, seine vier Geschwister haben alle mehrere Kinder. Neulich meinte er, dass er es anfangs völlig in Ordnung fand, ohne Nachwuchs zu bleiben und dadurch mehr Zeit füreinander zu haben. Aber mit den Jahren wurde ihm das Manko [116] schmerzlich bewusst, hinter meinem Rücken schaute er in fremde Kinderwagen…«
    Nach ihrer atemlosen Rede hält Birgit inne. Sie erkennt wohl an meiner Leidensmiene, wie es in mir aussieht. Plötzlich umarmt sie

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