Kuckuckskind
Kopenhagen abgesetzt. Beide haben ein Engagement an der neuen Oper bekommen. Dort verdient sie gut, das muss man ihr lassen. – Ach, es ist bestimmt ein toller Beruf, von dem ein kleiner Sopran in einem Laienchor nur träumen kann!«
»Und dein Vetter ist finanziell von seiner Frau völlig abhängig?«
»Ich glaube nicht«, sagt Martina. »Bis vor einem [105] Jahr war er noch bei einem Pharmakonzern beschäftigt, und bei der Entlassung hat er eine Abfindung erhalten. Jetzt schreibt er Beiträge für eine wissenschaftliche Zeitschrift.«
Wir verabschieden uns; für den Transport und die Information bin ich ihr sehr dankbar.
Kochen ist nicht gerade mein Hobby, aber auch fertige Produkte müssen nicht minderwertig sein. Zum Beispiel verkauft der hiesige Metzger Elsässer Wurstsalat in bester Qualität. Auf einen gedeckten Tisch habe ich verzichtet, denn ich brauche nur eine Kuchengabel, um das Plastikschälchen zu leeren. Ich bin fast satt, als die Tagesschau beginnt. Wie eine Römerin lagere ich nun auf dem Diwan und futtere noch ein paar Weinbeeren, als ausgerechnet jetzt mein Telefon klingelt. Bestimmt ist es meine Mutter, die mich regelmäßig zu stören pflegt.
»Anja, hier ist Gernot. Leg bitte nicht gleich auf, schließlich sind wir erwachsene Menschen! Du hast in meiner Abwesenheit verschiedene Möbelstücke und den Fernseher abgeholt, was dein gutes Recht war. Darum geht es auch gar nicht, sondern um die Aktenordner. Ich brauche dringend die Versicherungspolicen…«
Ich muss hörbar schlucken. Schon vor meinem Umzug hatte ich vorgehabt, Gernots Papierkram [106] auszusortieren und während seiner Abwesenheit wieder an Ort und Stelle zu schaffen. Etwas kleinlaut behaupte ich: »Ach so, das geht aufs Konto meiner Mutter. Sie hat eine Spedition beauftragt und höchstpersönlich für den Abtransport gesorgt. Sie wusste wohl nicht so genau, welche Ordner von wem sind.«
»Wenn du nichts dagegen hast, bin ich in zehn Minuten bei dir!«
Das kommt mir zu überraschend, da hilft nur eine Notlüge: Ich habe eine Verabredung und stehe bereits im Mantel an der Haustür.
Wir verabreden uns für den nächsten Tag.
Fieberhaft beginne ich damit, die schwarzen Kartonbögen durchzusehen. Welche Fotos will ich unbedingt behalten, welche stehen mir nicht zu? Als wir uns kennenlernten, sah Gernot richtig gut aus mit seinem blonden Wuschelkopf: ein schlanker, sportlicher Mann, dem die Frauen nachsahen. Leider bändigt er bereits seit Jahren die widerspenstigen Haare mit extrastarkem Gel. Und auch ich war ein durchaus hübsches Mädchen, nur hat er es mir nie gesagt. Soll ich mich von allen Fotos trennen, auf denen wir gemeinsam abgebildet sind? Doch vielleicht will er sie gar nicht haben.
Vor Gernots Besuch habe ich regelrecht Angst, denn ich weiß nicht genau, wie ich mich verhalten soll. Ob ich eine Bemerkung über seinen Urlaub [107] mache? Bestimmt ist es besser, nur rasch die Akten herauszurücken und ihm noch nicht einmal einen Stuhl anzubieten. Ich hoffe, dass er wenig Zeit hat und alles schnell über die Bühne geht.
Natürlich kommt Gernot pünktlich, etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. Seine uralten Cordhosen verraten, dass er vorher zu Hause war und die Bürokleidung abgeworfen hat. Immerhin hat er sich noch die Zeit genommen, sein würziges Rasierwasser zu benutzen.
»Gratuliere! Eine schöne Wohnung! Es freut mich, dass du es so gut getroffen hast«, sagt er und überreicht mir ein paar mickrige Chrysanthemen aus unserem Garten.
Offensichtlich haben die robusten Blumen die mangelnde Pflege überlebt. Verlegen murmele ich: »Danke. Wie geht’s denn so?«
»Gut«, sagt er und lässt sich ungefragt in den Korbsessel fallen. Nicht ohne Interesse gleitet sein Blick über meine neue Einrichtung und bleibt nachdenklich am Flachbildfernseher hängen, der unsere letzte gemeinsame Anschaffung war.
Statt unverfänglich über den Glücksfall dieser Wohnung zu plaudern, frage ich wider besseres Wissen nun doch: »Wie war der Urlaub? Du warst doch bestimmt wieder in Frankreich?«
[108] »Nur kurz«, sagt er, »ich bin an die ligurische Küste gefahren. Man muss ja mal etwas Neues kennenlernen.«
Ach ja, denke ich, etwas Neues! Und plötzlich kann ich mich nicht mehr beherrschen und fange an zu weinen.
Gernot steht auf und streicht mir übers Haar, was ich erst recht nicht ertragen kann. »Anja, es tut mir leid, wenn es dir nicht gutgeht. Ich weiß, dass ich dich sehr verletzt habe. Doch schau mal, ich
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