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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Mahlzeit-Fraktion packt zwei sorgfältig geschmierte Vollkornscheiben mit Salatblatt aus einer appetitlichen Tupperbox, Papierservietten sind selbstverständlich. Die grüne Abteilung nagt an Kaninchenfutter, die Chaoten eilen in letzter Minute zum Bäcker und kommen mit ungesunden Puddingteilchen und Schokoriegeln zurück. Birgit spachtelt Rügenwalder Teewurst zentimeterdick auf ihr Laugenbrötchen. Der Rest fastet oder schnorrt, ich gehöre zum Rest.
    Meine Idee war es wiederum, unsere männlichen Kollegen in Schlipse und Pullover einzuteilen. Klar, Anselm Schuster ist ein Mahlzeit-Schlips. Von den übrigen Krawattenträgern ist nur der Bio-Lehrer interessant, der sich große Mühe mit seinem Halsschmuck gibt. Immer wieder staunen wir über Flora und Fauna, die sich auf reiner Seide versammelt und seine Schülerinnen sicher gehörig ablenkt. Biologie wird im Übrigen auch von unserer ältesten [129] Kollegin unterrichtet, die wir »Mutter Natur« nennen und die das schiere Gegenteil des Bio-Schlipses ist. Sie hat selbst im Winter keine Strümpfe an und ist mit Julians schräger Großmutter befreundet. Wenn ein Schüler ihr Missfallen erregt, ruft sie: »Donnerwetter noch einmal!«
    Es waren die kleinen Hetztiraden und Sticheleien, die mich mit Birgit verbanden. Die Scherze fehlen mir, seit Birgit mich meidet. Auch rein äußerlich macht sie gerade eine Veränderung durch, ihr Gesicht wirkt aufgeschwemmt. Um davon abzulenken, benützt sie neuerdings einen Lidstrich in Türkis und schminkt sich einen Himbeermund. Anscheinend wird sie jetzt nicht mehr von morgendlichem Erbrechen geplagt, aber so vergnügt wie früher ist sie nicht.
    Allerdings ist sie von uns beiden wohl die bessere Lehrerin. Ich unterrichte seit einigen Jahren hauptsächlich Deutsch, aber als frischgebackene Referendarin gab ich Französisch-Nachhilfe und kam überhaupt nicht weiter bei meinen Kandidaten. Oder waren es immer nur Holzköpfe, was man von Manuel nicht sagen kann?
    Martinas Auto parkt vor unserem Haus, sie besucht wohl ihren Vetter. Oder ob sie auch bei mir hereinschauen will?, frage ich mich und räume hastig die Sudokus vom Couchtisch.
    [130] Tatsächlich stehen kurz darauf Patrick Bernat und Martina vor meiner Wohnungstür.
    »Dürfen wir reinkommen?«, fragt Martina. »Wir haben einen kleinen Anschlag auf dich vor!«
    Ich bin gespannt. Im Chor fehle es wieder einmal an Männerstimmen, erklärt Martina, insbesondere an Tenören, und die Carmina Burana wirke erst durch einen stimmgewaltigen Klang. Nun habe sie sich erinnert, dass Patrick vor Jahrzehnten ein Star des Schulchors war; es wäre doch ein toller Gag, wenn er an seine früheren Meriten anknüpfe und…
    Bernat unterbricht sie. »Martina überschätzt mich. Ich kann ja kaum Noten lesen! Als bescheidener kleiner Schüler sang ich einmal in einem Chor. Nach so langer Zeit ist man doch nicht…«
    Jetzt schneide ich ihm das Wort ab. »Wenn man Lust am Singen hat und nicht völlig unmusikalisch ist, dann sehe ich kein Problem. Mir hat es immer Spaß gemacht, obwohl ich anfangs auch nicht viel Ahnung hatte.«
    Martina grinst. »Jetzt hast du dich verraten, Anja! Übrigens hat sich Patrick schon halbwegs breitschlagen lassen. Er will es probeweise versuchen, allerdings nur, wenn du auch wieder mitsingst!«
    Nun werde ich rot. Kann es wirklich sein, dass man sich um mich reißt? Ich bleibe zwar zurückhaltend und behaupte, ich müsse mir das [131] gründlich überlegen, bin aber in Wahrheit glücklich darüber.
    In meinem großen Bett schlafe ich meistens ganz gut, doch diesmal gibt es eine Steigerung: Im Traum singe ich Koloraturen wie die Königin der Nacht.
    Am Montagabend fahren wir gemeinsam mit Bernats altem, viel zu großem Wagen zur Chorprobe.
    »Gehören Sie wirklich zu den heißbegehrten Tenören?«, frage ich.
    Er sei nur ein stinknormaler Bariton, meint Bernat, aber er befürchte, dass man ihn zum Knödeltenor umfunktionieren und überfordern werde. »Es stimmt schon, was Martina erzählt hat«, sagt er. »Als Junge habe ich gern im Schulchor gesungen, einmal hatte ich sogar eine Soloeinlage. Auch als Student habe ich noch wacker mitgehalten, wenn gegrölt wurde. Als ich später meine Frau kennenlernte, ist mir das Singen jedoch schnell vergangen. Neben einer ausgebildeten Primadonna, die alles perfekt vom Blatt singt, kommt man sich unsäglich dilettantisch vor.«
    »Wer ein Instrument beherrscht, ist beim Notenlesen natürlich im Vorteil«, sage ich. »Als Mädchen

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