Kuckuckskind
habe ich zwar Blockflöte gespielt, aber schon mit elf Jahren wurde es mir durch den überzogenen Ehrgeiz meiner Mutter vermiest. Eigentlich schade.«
[132] »Manuel verweigert sich leider auch, dabei haben wir doch den Flügel. Hin und wieder klimpert er mit Julian darauf herum, und es klingt barbarisch.«
Als wir den Probenraum betreten, sitzen die meisten schon auf ihren Plätzen, stehen aber bei unserem Anblick auf und klatschen. Ich weiß nicht genau, ob der ersehnte Tenor bejubelt wird oder ob es der Rückkehr einer verlorenen Tochter gilt.
Kurz darauf beginnen wir mit dem bombastischen Chorsatz O Fortuna! , und ich rede mir ein, dass die Glücksgöttin von jetzt an ihr Füllhorn über mich ausschütten wird.
Wie ich es von früher gewohnt war, streben die meisten Sänger nach der Probe zum Griechen, diesmal sind Bernat und ich mit von der Partie. Es wird getrunken, erzählt, gewitzelt, gelacht. Es wird über Carl Orffs angepasste Haltung im Dritten Reich diskutiert und über den erotischen Text der Carmina Burana .
Wir sitzen an zwei langen Tischen, die sehr jungen von den älteren Mitgliedern getrennt. Die meisten duzen sich, und nach drei Gläsern Retsina sage ich nicht mehr »Herr Bernat«, sondern »Patrick« zu meinem Vermieter.
Auf der Heimfahrt singen Patrick und ich lauthals, grottenfalsch und völlig enthemmt, es ist gut, [133] dass der Chorleiter uns nicht hören kann. Wir versuchen uns mit Auf einem Baum ein Kuckuck saß , aber nur die erste Strophe fällt uns ein.
»Dieses Lied birgt ein tiefenpsychologisches Geheimnis«, behauptet Patrick. »Der Vater eines Kuckuckskindes ist zweifellos ein Esel!«
»Da verwechselst du was«, sage ich, »das ist ein ganz anderes Lied!«
Als wir aussteigen, sehe ich schemenhaft ein Faungesicht hinter dunklen Fensterscheiben. Es ist bereits Mitternacht.
Ich kann nicht einschlafen, weil der Alkohol und tausend Fragen durch meinen Kopf geistern. Wie wird Manuel reagieren, wenn sich seine Klassenlehrerin über Nacht mit seinem ehrwürdigen Vater duzt? Wird mich der Junge nun ebenfalls »Anja« nennen wollen? In meiner Schulzeit ließen sich manche Lehrer mit dem Vornamen ansprechen, aber inzwischen warnt man vor Distanzlosigkeit und spricht von den verheerenden Folgen der 68er Pädagogik. Bin ich zu konservativ und ängstlich, dass ich mir darüber überhaupt Gedanken mache? Eine formale Anrede ist noch längst keine Garantie für den erhofften Respekt, und andersrum.Wie auch immer, auf den nächsten Montag freue ich mich jetzt schon.
[134] Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich Patricks Gewohnheiten ausspioniere, weil ich ihm möglichst zufällig möglichst oft begegnen will. Wenn man im selben Haus wohnt, ist das nicht schwer, aber legt mein Vermieter überhaupt Wert auf diese Treffen im Treppenhaus? Versucht er seinerseits auch, mir über den Weg zu laufen? Fragt er seinen Sohn aus, wie er meinen Unterricht beurteilt? Ich gebe mir in letzter Zeit besondere Mühe mit der Deutschstunde und versuche, meine Klasse originell und interessant, intelligent und abwechslungsreich zu unterhalten. Nur in der größten Not greife ich wie ein Löwenbändiger zur Peitsche. Manuel soll seinem Vater erzählen, dass ich die beste Deutschlehrerin unter der Sonne bin.
Einmal kam ich aus der Schule zurück und hörte Musik im Erdgeschoss, die bestimmt nicht zu Manuels Favoriten gehörte. Ich lauschte angestrengt. Zum Glück war es keine Oper und die Sängerin gar Patricks Frau, sondern eine CD mit Balladen von Carl Loewe. Mein Papa pflegte den Prinz Eugen anzustimmen, wenn er einen über den Durst getrunken hatte. Wehmütig spitzte ich die Ohren und hörte gerührt, dass Patrick gelegentlich mitsang.
»Hei, das klang wie Ungewitter weit ins Türkenlager hin«, schmetterte mein Vermieter. Ich dachte [135] an meinen wunderbaren Vater, und mir kamen die Tränen. Wahrscheinlich habe ich mich in diesem Moment in Patrick Bernat verliebt.
[136] 11
Die Herbstferien kann man vergessen, so kurz sind sie bei uns im Ländle. Patrick und Manuel leisteten sich eine kleine Reise nach London, ich wäre gern zum Mitkommen aufgefordert worden. Als sie zurück waren, haben wir zu dritt eine große Gartenaktion durchgeführt, alle Blätter zusammengerecht und ein illegales Feuerchen angezündet. Das Verhältnis zu Patrick ist zwar mit jeder Chorprobe herzlicher und freundschaftlicher geworden, aber ein Liebespaar sind wir nicht. Es ist ja auch die Frage, ob ich mich mit einem
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