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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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sich meine Mutter mit den taktvollen Worten: »Deinen neuen Freund hätte ich kaum wiedererkannt – beim ersten Mal sah er aus wie ein Zottelbär, jetzt wie ein Skinhead. Wie ernst ist dir deine Liaison eigentlich, ist dieser Mensch nicht zu alt für ein eigenes Baby?«
    [217] »Denk doch mal an Picasso«, sagte ich, »der hat noch mit 68 die Paloma gezeugt. Grey sex beginnt erst mit 60.«
    Meine Mutter macht sich bei jedem Kind Gedanken, wem es ähnlich sehen könnte, doch ich hatte mir bereits nächtelang das Hirn zermartert. An irgendjemanden erinnerte mich der Kleine. Im Geist ging ich das ganze Lehrerkollegium durch, dachte auch an gemeinsame Ferien, wo Birgit immer mit schicken Franzosen geflirtet hatte. Da gab es mal einen, der wie der jugendliche Pierre Brice aussah und vom Typ her am ehesten in Frage kam. Aber das war einige Jahre her, hatte Birgit ihn jemals wiedergesehen? Sollte sie jedoch bei ihrem Winnetou Zuflucht gesucht haben, dann hätte sie ihr Kind sicherlich mitgenommen.
    Und was bedeuteten Gernots Worte, sie sei eine enttäuschte Frau? War ihre Ehe ein Debakel? Mir wäre der äußerlich so attraktive Steffen auf jeden Fall zu langweilig gewesen, vielleicht war er auch eine Niete im Bett. Zweimal hatte ich bei früheren Urlaubsreisen erlebt, dass er jähzornig werden konnte, doch in beiden Fällen handelte es sich um Lärmbelästigung durch andere Touristen, und ich war insgeheim dankbar, als er dagegen anging.

[218] 17
    In letzter Zeit bin ich völlig erschöpft von meinen vielfältigen Pflichten. Auch wenn sich Patrick den Vormittag über und nachts um das Baby kümmert, bleibt noch allerhand an mir hängen. In der Schule wird mir jede zusätzliche Belastung zu viel, obwohl das Abitur nun endlich hinter uns liegt und wie durch ein Wunder alle bestanden haben. In meinem Fach lag heute der Zettel eines Kollegen: Die Schülerin Sara aus meiner Klasse schwänze häufig den Physikunterricht, ich soll der Sache nachgehen. Das nächste Ärgernis lässt nicht lange auf sich warten: Der Kopierer verweigert seinen Dienst und signalisiert Papierstau, womit ich nicht klarkomme. Und in der großen Pause habe ich heute Aufsicht, was ich hasse: Es bedeutet den Verzicht auf die Appetithappen meiner Kollegen. Immerhin habe ich Glück im Unglück: Manuel latscht über den Schulhof und schaut mich fragend durch seine kleinen Brillengläser an. »Was ist los mit dir?«
    »Hunger!«, sage ich, und er teilt sofort sein Frühstücksbrot.
    [219] Patrick hat es sorgfältig geschmiert, bis an den Rand ist es dick mit Butter bestrichen, gekochter Schinken und Käse sind durch ein frisches Salatblatt voneinander getrennt. Wie angenehm wäre es, wenn mich mein Vermieter Tag für Tag mit einem Beweis seiner Fürsorge beglücken würde! Aber ungefragt wird er wohl kaum auf die Idee kommen.
    Dann erfahre ich, dass Manuel leider eine Fünf in Französisch geschrieben hat. Ob ich nicht gelegentlich mal…
    Ich nicke missmutig, weil das bedeutet, dass ich ihm unbezahlten Nachhilfeunterricht geben soll. Doch vielleicht könnte man mit Patrick einen Deal machen – Pausenbrot gegen Privatstunden.
    Als ob das alles nicht genug ist, kommt auch zu Hause keine rechte Freude auf. Als ich Victor zur Begrüßung auf den Arm nehme, erbricht er einen Schwall säuerliche Milch auf meine Bluse, ich stinke gen Himmel. Und zum ersten Mal hat Patrick das Essen völlig versalzen.
    »Das Experiment mit Natriumchlorid muss als missglückt bezeichnet werden«, bemerkt Manuel grinsend.
    Nach wenigen Bissen verziehe ich mich durstig in die eigenen Räume. Wichtiger als alles andere ist jetzt ein kurzer Schlaf, denn Victor wird spätestens [220] in einer Stunde Nachschub verlangen. Aber auch das wird mir nicht gegönnt, penetrantes Telefongeklingel scheucht mich vom Lager.
    Eine Mitarbeiterin der Polizei bittet mich höflich, umgehend beim Kommissariat vorbeizukommen. Es gehe um meine ehemalige Kollegin Birgit Tucher.
    »Hat man sie endlich gefunden?«, frage ich.
    »Darüber darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben«, sagt die Sekretärin. »Also, wir erwarten Sie um 15 Uhr.«
    Natürlich bedeutet das nichts Gutes, mit der Ruhe ist es vorbei. Bevor ich mich Victor zuwende, muss ich mich dringend auf den morgigen Deutschunterricht vorbereiten und dann auf die Wache eilen. Wer weiß, wie lange es dauern wird. Patrick bietet sich an, meine häuslichen Pflichten bis zum Abend zu übernehmen. »Übrigens habe ich mich entschlossen, nicht nach Potsdam

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