Kuckuckskind
zu gehen«, sagt er beiläufig, und ich falle ihm um den Hals.
»Aber warum nicht?«
»Hab einfach keine Lust«, sagt er wie ein aufsässiger Schüler, der keine Hausaufgaben gemacht hat. »Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, den ganzen Tag in Pantoffeln herumzulaufen. Im Übrigen stehen noch die Antworten auf zwei andere Bewerbungen aus, die – geographisch gesehen – günstiger für uns wären.«
[221] Das höre ich gern. Auf einmal ist meine schlechte Laune wie weggeblasen, und ich fahre einigermaßen gefestigt zur Polizeidienststelle.
Ich bin verwundert, dass ich direkt zur Kripo geleitet werde. Hinter einem schäbigen Schreibtisch wartet eine imposante Gestalt. Es fehlt nur die Pelzmütze, dann säße Leonid Iljitsch Breschnew leibhaftig hier. Mir wird mulmig zumute. Ganz naiv frage ich ihn, ob denn Weglaufen eine strafbare Handlung sei.
Der Kommissar lächelt. »An und für sich nicht. Vermisstenanzeigen landen jedoch grundsätzlich auf dem Schreibtisch der Kriminalpolizei. Und im Fall Birgit Tucher lässt sich außerdem ein Verbrechen nicht ausschließen.«
Dann erfahre ich, dass Steffen im Krankenhaus liegt und nach einem schweren Verkehrsunfall vorläufig nicht vernehmungsfähig ist. Da sich das verwaiste Kind der Tuchers in meiner Obhut befinde, müsse das Jugendamt eingeschaltet werden.
»Wird man mir das Baby sofort wegnehmen?«, frage ich.
Das müssten die Kollegen vom Jugendamt entscheiden, sagt der Kommissar.
Auf Grund von Steffens Vermisstenanzeige habe man routinemäßige Ermittlungen angestellt, die zu keinem Ergebnis geführt hätten. Leider habe es [222] eine kleine Panne gegeben, und man habe erst durch einen Zufall erfahren, dass Birgit Tucher einen Säugling zurückließ. Dadurch erscheine die Sache natürlich in einem anderen Licht, und es wurde sofort eine erweiterte Personenfahndung eingeleitet.
»Hat Steffen Tucher denn die Existenz des Babys verschwiegen?«, frage ich.
»Der Mann war in denkbar schlechter Verfassung«, sagt der Beamte, und seine mächtigen Brauen bleiben in ständiger Bewegung. »Aber er hat immerhin eine Einwilligungserklärung unterschrieben, dass wir gegebenenfalls die Presse einschalten dürfen.«
Jetzt wird er amtlich, denn ich soll meine Beziehung zu den Tuchers genauestens beschreiben. Ob ich etwas über Birgits Auslandskontakte wisse, ob es in ihrem Umfeld unerklärliche Zwischenfälle gegeben habe, ob sie nach der Geburt depressiv gewirkt habe und ich mir eine Verzweiflungstat vorstellen könne.
Ich halte mich bedeckt, denn anscheinend wissen sie nicht, dass Steffen einen Vaterschaftstest machen ließ. Vielleicht wäre es meine Pflicht, dieses Problem anzusprechen, aber ich werde schließlich nicht danach gefragt. Im Übrigen ist mir nicht klar, ob Gernot ebenfalls vorgeladen wird oder bereits eine Aussage gemacht hat.
[223] »Frau Tucher verschwand unter Zurücklassung ihrer persönlichen Habe, selbst ihre Ausweispapiere hat sie nicht eingesteckt. Das sieht nach einer Kurzschlussreaktion aus, denn Herr Tucher begründete das Verschwinden seiner Frau mit einer ehelichen Auseinandersetzung. Als gute Bekannte der Familie wissen Sie vielleicht, ob es häufig zu Differenzen zwischen den Tuchers kam? Gab es vielleicht einen anderen Mann?«
Soll ich alles sagen, was ich weiß? In jeder Ehe gebe es Krisen, sage ich, Birgit sei eine attraktive Frau mit vielen Verehrern, was dem Ehemann vielleicht Grund zur Eifersucht gegeben habe.
Und warum Herr Tucher sein Kind ausgerechnet bei mir abgeliefert habe?
Nun, ich bin eben eine langjährige Freundin, sage ich. Und Steffen konnte den Kleinen doch nicht allein lassen, als er sich auf die Suche nach seiner Frau begab.
»Können Sie eigentlich beweisen, dass Ihnen der Säugling anvertraut wurde? Es wäre immerhin denkbar, dass Sie das Baby einfach an sich genommen haben. Ihre eigene Kinderlosigkeit war doch wohl der Grund für Ihre Scheidung.«
Wie kommt dieser Mann zu einer solchen Unterstellung? Ich werde über und über rot. Werde ich etwa verdächtigt, Birgit ermordet zu haben, um mir [224] den niedlichen Victor unter den Nagel zu reißen? Ich merke auch, dass man bereits Erkundigungen über meine Person eingezogen hat.
Zum Glück fragt der Kommissar jetzt, ob ich Näheres über Frau Tuchers Bekanntschaften in Frankreich wisse.
»Eine gute Freundin von Birgit heißt Françoise«, sage ich. »Leider kenne ich sie nicht persönlich, weiß daher auch nicht den vollen Namen und die Adresse. Sie muss in
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