Kuckuckskind
Sie macht sich Sorgen, will auf der Stelle zu uns fahren und mir beistehen.
»Das ist wirklich nicht nötig«, sage ich ungeduldig. »Ich werde mich aus diesem Fall völlig heraushalten…«
»Anja, was redest du wieder für einen Unsinn! Du hast ein fremdes Kind am Hals, dessen Vater vielleicht ein Mörder ist! Wer weiß, was für grässliche Gene der arme kleine Victor mitbekommen hat!«
»Steffen ist wohl nicht sein Vater«, sage ich.
»Seins oder nicht seins, das ist hier die Frage«, deklamiert meine Mutter. »Aber wer ist es denn dann?«
»Wissen wir alle nicht«, sage ich und liefere ihr dadurch einen Anlass für wilde Spekulationen.
»Wie der Name schon verrät, sind Hausfreunde meistens Männer aus der näheren Umgebung, die man häufig und anfangs ohne Hintergedanken trifft. Ich glaube nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Meistens sind es Kollegen, der Kinderarzt, der Nachbar, ein Freund des Ehemannes und so weiter.«
»Woher weißt du das so genau?«, frage ich spitz.
»Mein liebes Kind, ob du es glaubst oder nicht, [253] auch ich habe Lebenserfahrung«, kontert sie genauso bissig.
In einem Punkt hat sie zwar recht – Birgits Lover, also Gernot, war ein Freund des Paares, aber es muss ja noch einen dritten Mann gegeben haben.
Im Internet finde ich tatsächlich die Agentur für Ferienhäuser, bei der Gernot und ich vor Jahren unseren Urlaub in Draguignan gebucht hatten; eine freundliche Angestellte hilft mir weiter und stellt fest, dass eine Madame Tucher im vorigen Sommer eine Wohnung in Figanières gemietet hatte. Die französische Freundin der Deutschen habe den Vertrag unterzeichnet und im Voraus bezahlt, es müsste sogar noch eine Quittung vorhanden sein – wenn ich einen Moment warten wolle. Nach fünf Minuten erfahre ich ihren Namen: Mme Hurtienne, Lehrerin in Draguignan. Und nach einigen freundlichen Sätzen meinerseits (»Die Provence ist das schönste Fleckchen Erde in ganz Europa«), dann ihrerseits (»Es ist selten, dass Deutsche so gut Französisch sprechen«), sucht sie mir die Telefonnummer von Mme. Hurtienne heraus. Ihr Vorname ist Françoise.
Ich rufe auf der Stelle dort an, und wir verstehen uns auf Anhieb ganz ausgezeichnet. Françoise meint sogar, Birgit habe früher sehr freundlich von mir [254] gesprochen. Schon nach wenigen Worten habe ich das Gefühl, ihr in den meisten Punkten die Wahrheit sagen zu können. Natürlich ist Françoise fassungslos über Birgits Verschwinden und den schrecklichen Verdacht, den ich andeute. Sie hat die deutsche Kollegin noch während ihrer Studienzeit kennengelernt, später eine gemeinsame Reise mit ihr nach Schottland unternommen und den Kontakt nie abreißen lassen. Françoise will als Erstes wissen, wie es dem kleinen Victor geht.
»Er ist sehr niedlich und kerngesund. Mein Partner nennt ihn meistens Bärchen , weil er einen dunklen Pelz hat. Ich maile dir mal ein Foto von dem Kleinen«, sage ich und rücke allmählich mit meinem Anliegen heraus. Ob Birgit in Frankreich einen Freund habe, ob sie überhaupt über ihre Ehe und ihr Liebesleben miteinander gesprochen haben.
Françoise sieht ein, dass ihre Hilfe von entscheidender Bedeutung sein kann. Sie weiß von keinem französischen Lover, der zudem noch aussieht wie ein Bär. Ein Deutscher habe Birgit zwar auf der Hinreise begleitet, aber anscheinend war es nur ein guter Bekannter, der zufällig auch auf dem Weg gen Süden war. Sie habe diesen Reisekameraden allerdings nicht kennengelernt.
»Das war mein geschiedener Mann«, sage ich, und sie reagiert nur mit einem » ah, bon «.
[255] Okay, Gernot, denke ich, du bist anscheinend wirklich nicht lange in Draguignan geblieben und erst einmal aus dem Schneider. Wenigstens hast du mich nicht in allen Punkten belogen.
»Warum sind wir uns eigentlich nie begegnet?«, frage ich. »Früher haben wir mehrmals mit Birgit und Steffen unseren Urlaub in der Provence verbracht.«
»Ganz einfach, wir waren in den Sommerferien meistens in der Bretagne.«
Nun druckst Françoise ein bisschen herum und weiß anscheinend nicht genau, ob sie mir ein sehr persönliches Problem ihrer deutschen Freundin anvertrauen kann. »Birgit hatte gerade eine schwerwiegende Entscheidung getroffen«, sagt sie zögernd. »Kurz vor ihrer Abreise hatte sie einen Schwangerschaftstest gemacht und wollte hier in Frankreich abtreiben lassen.«
»Warum? Schließlich ist sie seit vielen Jahren verheiratet.«
»Sie hatte Angst, denn ihr Mann ist wohl nicht der
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