Kuckuckskind
Großmütter erschaffen. Auch meine Mutter würde sicher alles stehen- und liegenlassen und herbeieilen; vielleicht wartet sie sogar darauf. Schon oft habe ich gehört, dass sich die Beziehung zwischen Tochter und Mutter verbessert, sobald die Tochter selbst ein Kind hat und ahnt, wie viel ihre Mama seinerzeit geleistet hat.
Es kommt selten vor, dass ich am helllichten Tag im Bett liege, nicht lesen mag, noch nicht schlafen kann, sondern döse und vor mich hin dämmere.
Abschnitte meines Lebens gleiten in buntem Wechsel über meine innere Mattscheibe. Die behütete Kindheit in der ländlichen Kleinstadt, mein lieber Papa, mit dem ich mich oft gegen die strengere Mama verbündet habe. Meine Mutter, die bügelte [260] und gleichzeitig Märchen erzählte, wenn ich krank war, und das wohlige Gefühl, das ich dabei empfand. Die Studienzeit, die Freunde, das Berufsleben, die Reisen, die Ehe. Die Schuldgefühle. Es gibt mehrere Menschen, denen ich unrecht getan habe, vor allem jenen, die ich eigentlich liebte; Gernot und auch Birgit gehören dazu. Neid ist eine meiner Eigenschaften, mit der ich mir am meisten selbst geschadet habe. Und jetzt ein ganz neues Kapitel, das leider nicht ohne Altlasten begonnen werden kann.
Die beiden Aspirintabletten wirken schließlich, ich dämmere allmählich ein.
Als Patrick mit einem Kännchen Kamillentee hereinkommt, bin ich schon wieder in besserer Verfassung. »Heute Nacht schläft das Bärchen bei mir«, sagt Patrick. »Du bleibst einfach im Bett, bis es dir wieder gutgeht.«
»Schon wieder Bärendienst, das ist nicht gerecht«, protestiere ich pro forma. »Du tust viel mehr für ihn als ich. Und dabei bin ich diejenige, der man unseren Victor angedreht hat.«
»Ob du es nun glaubst oder nicht, aber ich bin dir dankbar dafür«, sagt Patrick. »Morgen muss ich allerdings mit Manuel in die Stadt. Er braucht für die Kreuzfahrt ein Paar neue Hosen und einen Blazer. Ich bin etwas ratlos bei der Auswahl, mal tragen sie [261] ganz weite, dann wieder enge Hosen! Meinst du, dass ich den Kleinen hierlassen kann, oder soll ich ihn lieber mitnehmen?«
»Kein Thema«, sage ich.
Halb neun ist vielleicht keine verkehrte Zeit, um eine Karrierefrau anzurufen. Birgits ältere Schwester geht nach zehnmaligem Läuten an den Apparat.
»Ich habe Ihren Anruf schon erwartet«, sagt Kirsten. »Wie viel Geld soll ich Ihnen überweisen?«
Mit dieser Frage habe ich am allerwenigsten gerechnet. Ich erkläre ihr, dass ich demnächst von der Familienkasse Kindergeld erhalte.
»Es wird immer an die Person ausgezahlt, in deren Obhut sich das Kind befindet«, sage ich verlegen.
»Ah ja? Aber das wird nicht reichen«, sagt sie. »An welche Summe haben Sie gedacht?«
Darum gehe es doch gar nicht, sage ich etwas ungehalten, denn schon fängt es in meinem Kopf wieder an zu pochen. Birgit werde vermisst, sei vielleicht tot! Steffen liege schwer verletzt im Krankenhaus und sei nicht der leibliche Vater. Wie denn ihre Eltern reagiert hätten?
»Meine Mutter ist vor einem Jahr gestorben«, sagt Kirsten. »Ich hätte erwartet, dass Sie davon wissen. Mein Vater ist dement und lebt in einem Heim. [262] Ich bin somit die nächste Verwandte und werde mich in finanzieller Hinsicht nicht drücken.«
Ein zweites Mal betone ich, dass sich nicht alles um Geld dreht, sondern dass mir die Zukunft ihres Neffen Sorge bereitet.
»Neffe?«, wiederholt sie, als ob sie dieses Wort noch nie im Leben gehört hat. »Soll ich ihn etwa adoptieren? Wissen Sie, ich habe bewusst auf eine eigene Familie verzichtet, weil es mit meinem Beruf nicht zu vereinbaren wäre. Ich sehe keine Möglichkeit und auch keinen Grund, mich anders als finanziell für dieses Kind zu engagieren.«
Sie legt auf, und ich weine schon wieder. Die Kälte auf unserem Planeten ist trotz Klimaerwärmung manchmal unerträglich.
[263] 20
Patrick und ich diskutieren darüber, ob ich Steffen im Krankenhaus besuchen soll.
Er ist dagegen, ich bin dafür. »Ich kenne ihn schließlich schon lange«, sage ich. »Vielleicht durchschaue ich ihn, oder er verrät sich durch ein unbedachtes Wort. Die Polizei kommt anscheinend mit ihren Ermittlungen nicht richtig voran.«
»Und eine Lehrerin weiß immer, wie man alles besser macht«, sagt Patrick. »Aber tu, was du nicht lassen kannst. Er wird dir ja nicht gleich alle Knochen brechen.«
Gestern hat der Religionslehrer unserer Schule einen ökumenischen Bittgottesdienst für Birgit organisiert. Nachmittags um sechs
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