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Kuehler Grund

Titel: Kuehler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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die grauen, pomadigen Strähnen glatt. »Auch wenn Sie noch so viele Leichen finden.«
    »Je schneller wir es hinter uns bringen, desto eher lassen wir Sie wieder in Frieden.«
    »Es hilft alles nichts, da können Sie noch so ein hohes Tier sein und noch so große Worte machen. Dieses ganze Kommen und Gehen und dauernd irgendwelche fremden Leute im Haus – das ist mir alles zu viel.«
    Tailby seufzte. »Wir würden die Geschichte gern noch einmal in Ihren eigenen Worten hören, Mr. Dickinson. Erzählen Sie uns einfach die Geschichte.«
    Harry starrte ihn trotzig an. »Die Geschichte. So, so. Wie hätten Sie sie denn am liebsten, soll ich ein bisschen Hintergrundmusik dazu spielen lassen?«
     
    Diane Fry hatte den Eindruck, dass die Befragung unmerklich gekippt war und sich die Rollen vertauscht hatten, sodass die beiden Beamten darauf warteten, von dem alten Mann vernommen zu werden, statt umgekehrt. Hitchens und Tailby waren nervös, sie rutschten auf den harten Stühlen herum und wussten nicht recht, was sie sagen sollten, um die Atmosphäre aufzulockern. Harry hingegen blieb völlig gleichmütig. Entspannt und ruhig saß er da, die Füße auf einer abgewetzten Stelle im Teppich als wären sie angewurzelt. Er hatte das Fenster im Rücken, sodass er sich von der hellen Straße draußen abhob, eine schwache Aura um Kopf und Schultern. Hitchens und Tailby mussten ins Licht sehen, während sie darauf warteten, dass der alte Mann weitersprach.
    »Also keine Musik, hm?«
    »Wie Sie möchten, Mr. Dickinson.«
    »Ich war mit Jess unterwegs.«
    »Jess?«
    »Mein Hund.«
    »Natürlich. Sie sind mit Ihrem Hund spazieren gegangen.«
    Harry zündete einen Fidibus an und zog an seiner Pfeife. Er schien abzuwarten, ob Tailby die Geschichte vielleicht selbst zu Ende erzählen wollte.
    »Ich bin mit meinem Hund spazieren gegangen, wie Sie sagen. Wir gehen immer da runter. Das habe ich dem Jungen schon erzählt. Sergeant Coopers …«
    »Sergeant Coopers Jungen, ja.«
    »Sie fallen einem gerne ins Wort, was?«, sagte Harry. »Ist das eine bestimmte … Wie heißt es noch gleich? Eine Verhörtechnik?«
    Fry hatte den Eindruck, dass der Anflug eines Lächelns über Tailbys Gesicht huschte. Hitchens dagegen, der im Büro immer so leutselig war, sah nicht so aus, als ob ihm nach Lachen zu Mute war.
    »Fahren Sie bitte fort, Mr. Dickinson«, sagte Tailby.
    »Wir gehen immer am Fuß der Raven’s Side spazieren. Jess läuft gerne am Bach lang. Hinter den Karnickeln her. Dabei hat sie noch nie eins gefangen. Ist ein Spiel, verstehen Sie?«
    Der Qualm von Harrys Pfeife stieg als Wolke zur Decke und wallte um eine schalenförmige Glaslampe, die an dünnen Ketten unter einer Sechzigwattbirne hing. In der Mitte des Raums war die Deckentapete gelb von Rauch.
    Fry blickte der Wolke nach. Wahrscheinlich saß der alte Mann jeden Tag in diesem Zimmer und rauchte, immer auf demselben Stuhl. Was wohl seine Frau in der Zwischenzeit machte? Ob sie sich im Nebenzimmer eine Krankenhausserie im Fernsehen ansah? Und was machte Harry, während er rauchte? In der Nische neben dem Kamin standen einige Bücher in einem Regal. Die Titel, die sie entziffern konnte, lauteten Bergarbeiter in Krisen- und Kriegszeiten, Die Gewerkschaften Großbritanniens, Wege zur Freiheit und Der Ripper und das Königshaus. Soweit sie sah, gab es nur einen einzigen Roman, Vaterland von Robert Harris. Er stand mitten unter den anderen Büchern, die akkurat zwischen zwei geschnitzten Buchstützen aus Eichenholz aufgereiht waren. In einem Zeitungsständer neben dem Kamin lagen drei oder vier Ausgaben des Guardian. Einen Fernsehapparat, ein Radio oder eine Stereoanlage gab es hier nicht. Wenn der alte Mann die Zeitung ausgelesen hatte, konnte er in diesem Zimmer nichts weiter tun, als auf das Ticken der Uhr zu lauschen und nachzudenken.
    Fry merkte, dass Harry sie ansah. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Ihr selbst wollte es bei ihm nicht gelingen. Seine Miene war ausdruckslos. Er hatte etwas von einem Aristokraten an sich, der eine Demütigung mit Fassung über sich ergehen ließ.
    »Ein Spiel, Harry …«, soufflierte Hitchens. Er war ungeduldiger als der DCI. Jedes Mal, wenn er den alten Mann »Harry« nannte, schienen sich dessen Schultern noch ein wenig mehr zu versteifen. Tailby war höflicher, nachsichtiger. Fry achtete bei ihren Vorgesetzten genau auf solche Merkmale. Wenn sie genug Beobachtungen zusammengetragen hatte, konnte sie sie

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